WELTZEITUHR
: Winkende Tram

Er stellt zu allen Blickkontakt her

Vielleicht hat er als Kind schon gern gewunken: Wenn er sich im Unterricht meldete, hob er nicht einfach nur den Arm, sondern winkte dem Lehrer zu.

Beim Fußball rief er nicht „Hintermann!“ oder „Abspielen!“, sondern winkte wild auf dem Spielfeld herum, bis ihn sein Mitspieler bemerkte. In Schulaufsätzen zum Thema ‚Was ich später einmal werden möchte‘ schrieb er: Verkehrslotse auf einer viel befahrenen Kreuzung. Seine Klassenkameraden, denen sein ständiges Gewinke auf den Geist ging, zogen ihn damit auf: ‚Wer winkt, der stinkt!‘ riefen sie, aber das störte ihn nicht. Der Siegeszug der Ampel machte ihm allerdings einen Strich durch seine beruflichen Zukunftspläne. Das könnte seine Geschichte sein. Zumindest verbringt er eine Menge Zeit damit, auf dem Alexanderplatz allen Leuten zuzuwinken, die er kennt. Und auch all den anderen, die er nicht kennt. Er ist ein außerordentlich ambitionierter Hobbywinker und winkt Müttern mit Kindern zu, alten Frauen mit Einkaufstaschen, Punks, verliebten Pärchen, Fahrradfahrern, Skateboardern und den Schaffnern der Tramlinien. Letzten Mittwoch saß ich in der M 4, die im Schritttempo über den Alex fuhr. Er stand bei der Weltzeituhr. Zuerst winkte er dem Schaffner. Dann winkte er den Fahrgästen.

Irgendwie schaffte er es, dass er zu jedem Einzelnen auf eine sehr unaufdringliche Weise Blickkontakt herstellte. Und schließlich winkten wir ihm alle, die wir in der Tram saßen, zurück. Einer nach dem anderen. Eine sanfte Wellenbewegung glitt durch die Tram. In Panama war es 12 Uhr 34, und in Berlin ging gerade die Sonne unter. Es fühlte sich gut an, Teil einer winkenden Tram zu sein, die einem einzelnen Mann zuwinkte. Einem Mann, der erst mit einer und dann mit beiden Händen winkte, während sich über ihm auf der Weltzeituhr unser Planetensystem drehte. DANIEL KLAUS