Al-Aksa-Lebensversicherungen

FREITEXT Diskussion und Belletristik: Autoren des Kulturmagazins „freitext“ zu Gast bei der Reihe „tausend worte tief“ in der Werkstatt der Kulturen

Den Anfang macht eine Projektion. Als Video zugeschaltet, „live aus der Matrix“, beginnt der in London lebende Soziologiedoktorand und White-Awareness-Trainer Mutlu Ergün seine Lesung. Ergün – mit verspiegelter Sonnenbrille, schwarzem Hut und Rapper-Habitus – orchestriert seinen Essay zur „Sozialpsychologie der Rassifizierung“ mit Schnipseln aus der „Matrix“-Szene: Morpheus, wie er Neo vor die Wahl zwischen roter und blauer Pille stellt. Mit Blau bleibt alles, wie es ist. Rot bringt Erkenntnis über die Mechanismen, die konstituieren, was wir als Realität wahrnehmen.

Solche Strukturen zu durchschauen und die eigene Person „selbstbestimmt definieren zu können“, das war zuvor schon einleitend als Ziel des Kultur- und Gesellschaftsmagazins freitext ausgerufen worden, das am Mittwochabend sein aktuelles Heft mit einer Lesung seiner Autoren in der Reihe „tausend worte tief“ in der Kreuzberger Werkstatt der Kulturen feierte. Seit sieben Jahren bietet die halbjährlich erscheinende Zeitschrift jungen Autoren eine Plattform für Diskussion und Belletristik.

Für Ergün bedeutet die rote Pille, sich mit der eigenen weißen Sozialisation auseinanderzusetzen, um zur wenig überraschenden Erkenntnis zu gelangen, dass Bilder von „Rassen“ soziale Konstruktionen sind, keine biologischen Tatsachen. Selbiges gelte für „die“ Muslime in Deutschland, die mitnichten eine homogene Gruppe, sondern Produkt historischer, kultureller und medialer Zuschreibungen sei. Die gelte es zu dekonstruieren und neu zusammenzusetzen, fordert Ergün, wobei seine Worte von der Übertragung stellenweise in rhythmische „tsts“-Laute zerhackt werden, was der ein wenig platten Allgemeingültigkeit seiner Aussagen den Charakter einer sich selbst kommentierenden Performance gibt.

Nach ihm liest Deniz Utlu, Kurator von „tausend worte tief“, eine Geschichte über einen Mann, der behelfsweise bei seinem lungenkrebskranken Vater einzieht und nachts, rauchend in der Küche, die einsam glühenden Zigaretten in den Fenstern gegenüber beobachtet. Sonst gibt es zu den Lesungen der 2003 gegründeten Reihe für „AutorInnen of Color und anderer Minoritäten“, die nun jeden zweiten Mittwoch im Monat stattfindet, auch mal DJs und Bands. Diesmal übernimmt YouTube die Pausenunterhaltung – mit der Pfanni-Persiflage für „100% deutsche Kartoffeln“ und Lady Bitch Rays „Deutschen Schwänzen“. Das homogene Studentenpublikum trinkt Beck’s aus der Flasche.

Nach der Pause wird es dann wieder ernster. Die in Mostar geborene Daniela Janjic liest zwei Gedichte über ein Land, in dem die Spuren des Krieges die Landschaft und die Wahrnehmungen der Menschen bestimmen. Einer der sprachlich stärksten Texte des Abends stammt von freitext-Mitbegründerin Marianna Salzmann, ein inhaltlich allerdings etwas gewollt drastischer Monolog der schwangeren Freundin einer der Münchner S-Bahn-Schläger.

Olga Grjasnowa ist nicht anwesend, wird aber würdig vertreten von ihrem rotmähnigen Porträt am Mikroständer und Marianna Salzmann, die Grjasnowas anspielungsreiche Werbeparodie für ein Terroristeninternat rasant verliest. Ausgehend von Wortspielereien wie der Al-Aksa-Lebensversicherung entwirft die Absolventin des Leipziger Literaturinstituts Terrorgruppen als mittelständische Unternehmen und ein absurdes Schulhofszenario, in dem die kleinen Tschetschenen von allen gehänselt werden und die besten Absolventen eines Jahrgangs bei der nächsten Einschulung als schwarz umflorte Porträtbilder auf der Bühne stehen. Albernheit und ironische Distanz rücken die Dinge zuweilen klarer in den Blick als ein Haufen gut gemeinter Ernsthaftigkeit. LAVINIA MEIER-EWERT