Die Repräsentantin

In der DDR wurde das Wir groß und das Ich klein geschrieben. Das merkt man ihr an. Noch immerSie wirkt manchmal unsicher. Viele halten sie für schwach. Das ist ein Irrtum. Sogar ein großer

VON STEFAN REINECKE

Petra Pau wartet in der Lobby des Bundestages auf ein Fax. Sie ist geduldig, wie immer. Vor ihr stehen drei eher unterbeschäftigt wirkende Angestellte des Parlaments. „Das Fax ist noch nicht da“, sagt einer. Petra Pau nickt und zieht leicht die Schultern hoch. „Hätten Sie eventuell ein Grundgesetz da, für meinen Praktikanten?“, fragt sie. „Hätten Sie eventuell“ heißt: Nur wenn es Ihnen nicht zu viel Mühe macht. In dieser Frage liegt kein Hauch von Autorität, eher der Beiklang einer Bitte. Petra Pau ist vorsichtig. Wie jemand, der darauf gefasst ist, selbst auf arglose Fragen ein Nein zu hören. So redet eigentlich niemand, der Macht repräsentiert. So reden eher Praktikanten. Morgen wird Petra Pau, Linkspartei.PDS, wahrscheinlich zur Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages gewählt. Bundestagspräsident ist formal das zweithöchste Staatsamt.

Petra Pau sagt auch viele klare Sätze. Sätze, die nicht bittend sind. Als Bundestagsvizepräsidentin werde sie dafür sorgen, dass auch „Gregor Gysi versteht, dass er bei einer Aktuelle Stunde nur fünf Minuten reden darf“. Neulich hat sich die Linksfraktion im Parlament Ver.di-Streikwesten übergestreift. Was hätte sie in diesem Moment, als Bundestagspräsidentin, getan? „Demonstrationen sind im Bundestag untersagt. Das gilt auch für Diether Dehm“, meint sie kühl, fast preußisch.

Diese Sätze verraten solides Selbstbewusstsein. Aber bei ihr klingen auch solche Sätze nicht auftrumpfend, nicht nach viel Ego. Eher zurückhaltend. Sie hat eine ziemlich tiefe Stimme. Manchmal kippt die am Satzende nach hinten weg. Ihre Gesten sind sparsam, konzentriert, auch kontrolliert. Aber ihre Augen sind oft unruhig. Der Blick wandert umher, als suche er Halt. Sie schaut ihr Gegenüber kaum an. Dann wirkt sie mehr als zurückgenommen, fast verschüchtert.

Vielleicht ist sie deshalb so oft unterschätzt worden. Weil sie so unsicher wirkt. Weil es so nahe liegt, dies und die Abwesenheit von Selbstinszenierung für Schwäche zu halten. Das ist ein Irrtum. Petra Pau ist nicht schwach.

Vielleicht gibt es in ihrem Leben ein Schlüsselerlebnis. 1988 wohnt sie in einer Einzimmerwohnung in Berlin, Prenzlauer Berg, vierter Stock, drei Außenwände. Im Frühjahr fliegen die Ziegel vom Dach. Die Wände sind nass wie Herbstregen. Sie wird krank. Wegen der feuchten Wohnung. Und ihrer Disziplin. Denn sie geht weiter arbeiten und erst ins Krankenhaus, als es zu spät ist. Eigentlich wollte sie mal Tennisspielerin werden. Damit ist es vorbei. Sie liegt ein halbes Jahr im Krankenhaus. Rheuma, mit 25 Jahren. Das macht depressiv. Oder zäh. Sie hat es zäh gemacht. Und noch disziplinierter, als sie ohnehin schon war.

Pau hat eine klare Vorstellung, warum es die Linkspartei.PDS 2006 gibt. Sie soll sich mit den Konflikten der Gesellschaft beschäftigen. Sie soll pragmatisch Lösungen finden und um ideologische Spiegelkabinette einen Bogen machen. Und sie soll sich glaubwürdig mit ihrer Geschichte befassen. 1996 hat Pau eine, für PDS-Verhältnisse kritische Erklärung zur Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur SED durchgeboxt, 2001 eine Entschuldigung für den Mauerbau, die ihr die PDS-Traditionskompanie krumm genommen hat. Es gibt nicht viele PDS-Politiker, die die Auseinandersetzung mit der Geschichte so ernst nehmen wie sie. Früher war sie ein gläubiger SED-Nachwuchskader. Heute ist sie eine selbstkritische Linke. Wie ist sie von da nach dort gekommen?

Die Antwort fällt ihr nicht leicht. „Das kam eher nach und nach“, sagt sie. In den Achtzigern studiert sie an der Parteihochschule der SED, der Kaderschmiede des deutschen Realsozialismus. Sie ist die Jüngste in ihrer Klasse, viel versprechender Nachwuchs mit blendenden Karriereaussichten im grauen Apparat der SED. Danach arbeitet sie beim Zentralrat der FDJ, behütet im Schoß der Partei.

Mitte der 80er arbeitet sie in Prenzlauer Berg als Pionierleiterin, ein Image, das bis heute an ihr klebt wie Kaugummi. Manche Kinder kommen mit blauen Flecken zur Schule. Eltern, die ihre Kinder verprügeln, sind im Arbeiter-und-Bauern-Staat eigentlich nicht vorgesehen. Das fällt ihr damals auf. Mehr nicht. 1988, Gorbatschow ist schon zwei Jahre am Ruder, fühlt eine Freundin vor, ob sie an Kontakt zur DDR-Bürgerrechtsbewegung interessiert sei. Ist sie nicht. „Das werfe ich mir heute vor“, sagte sie.

Dass mit der DDR etwas fundamental in Unordnung war, merkt die Genossin Pau Anfang Oktober 1989. Zur Feier des 40. Jahrestags der DDR marschiert sie mit Tausenden im FDJ-Blauhemd am greisen Politbüro vorüber. Danach will sie nach Hause. Sie winkt ein Taxi herbei. Der Fahrer sagte: „Nee, Rote fahre ich nicht.“ Den Mauerfall einen Monat später verschläft sie. Morgens in der S-Bahn wundert sie sich, dass alle bis zur Friedrichstraße, bis zur Mauer fahren.

Hat Sie danach nicht getrauert um die DDR?

Sie denkt nach. 1990 hat sie die Geschichte von Walter Janka gelesen, dem Kommunisten, der unter Ulbricht im Gefängnis saß. Das fand sie erschütternd. Aber so arg viel gegrübelt hat sie damals nicht. Sie hatte keine Zeit. Sie hatte eine Aufgabe. Sie musste sich um Pionierleiterinnen in der Republik kümmern. Und wie die es im neuen Deutschland doch noch zu einer abgeschlossenen Ausbildung bringen. Ein konkretes Problem. Sie musste es lösen. Danach entließ sie sich selbst, weil bei der FDJ keiner mehr da war, der sie entlassen konnte. 1990 wird sie arbeitslos.

Das ist keine Saulus-Paulus-Geschichte. Petra Pau wirkt in ihrer eigenen Erzählung etwas unbedarft, irgendwie verschlafen. Sie erscheint als jemand, der funktioniert, ohne wirklich zu wissen, warum. Als wäre sie nicht die Autorin ihres eigenen Lebens, sondern eine Getriebene. „Man musste etwas tun“, sagt sie. So war es damals halt. Die Zeit raste doch. Im Selbstbild von Petra Pau gibt es keine dramatische Läuterung. Es klingt roh, eckig. Dafür echt.

Nach der Wende fliegt sie die politische Karriereleiter hoch. Mit 28 stellvertretende Landesvorsitzende der PDS in Berlin, mit 29 Chefin, 1998 holt sie für die PDS ein Direktmandat, 2002 erneut. 2006 wird sie Bundetagsvizepräsidentin. So sieht es von außen betrachtet aus.

Aus Petra Paus Perspektive stellt sich die Sache anders dar, eher wie eine Reihe von Zufällen. Schon die SED-Parteihochschule ist ihr eher zugestoßen. „Ich war naiv. Ich wusste nicht, worauf ich mich da einlasse“, sagt sie. Ähnliches wiederholt sich 1991. Irgendwie wird sie Mitglied in der Bezirksverordnetenversammlung in Hellersdorf. Irgendwie wird sie 1992 stellvertretende Vorsitzende der Berliner PDS: nicht ohne eigenes Zutun, aber stolpernd, nicht marschierend. Dann muss ihr Chef André Brie zurücktreten, weil er seine Stasi-Geschichte verheimlicht hat. Sie wird zur Vorsitzenden der Berliner PDS gewählt. Vielleicht, weil sonst einfach keiner da war. „Ich wusste gar nicht, worauf ich mich einlasse“, sagt sie heute. Damals gilt sie als Notlösung. Aber das ist ein Irrtum. Die übliche Unterschätzung. Sie bleibt neun Jahre Chefin der Berliner PDS. Als sie 2001 geht, ist die Landespartei regierungstauglich. Das ist auch ihr Verdienst.

Richtig verloren hat sie im Oktober 2000. Damals wollte sie Parteichefin der PDS werden. Aber Gysi wollte sie nicht. So wurde es Gabi Zimmer. Die war eine schwache Vorsitzende. Der PDS wäre es besser ergangen, wenn sie damals Pau vertraut hätte.

Irritierend an Petra Pau ist, dass sie selbst von ihren Siegen erzählt, als wären es halbe Niederlagen. Etwa vom 27. September 1998, dem Tag der Bundestagswahl. Sie war wieder mal eine Notlösung gewesen. Die PDS, die sich gerne mit alten, wichtigen Männer aus dem Westen schmückt, hatte in Berlin-Prenzlauer Berg den Exbundeswehradmiral Elmar Schmähling als Direktkandidaten aufgestellt. Das war ein Fehler, denn der Militär hatte ein Verfahren wegen Konkursbetrugs am Hals. Die PDS brauchte dringend Ersatz gegen den Favoriten, den Ost-Sozialdemokraten Wolfgang Thierse. Petra Pau machte es. Bis in die Wahlnacht schien Thierse die Nase vorn zu haben. Doch am Ende gewann sie, hauchdünn, mit 294 Stimmen. Jetzt sitzt Petra Pau mit suchendem Blick in der Bundestagskantine und erzählt nicht von dem Glück des Sieges. Sondern davon, dass sie den ganzen Abend Interviews gab, in denen sie beteuerte, dass es nicht schlimm sei, dass sie verloren hatte. Bis das Endergebnis kam.

Das Sachliche, Zurückgenommene ist bei Pau keine Pose. Wahrscheinlich ist es typisch für die DDR, in der das Wir groß und das Ich klein geschrieben wurde. Und ein Erbe der Mangelwirtschaft, in der jeder auf jeden angewiesen war und Egotrips einfach nicht viel brachten. Vielleicht ist das Zurückhaltende für die Politikerin Pau mittlerweile auch nützlich. Petra Pau ist eigentlich immer gleich, egal ob sie mit Bundestagsangestellten oder CDU-Spitzenpolitikern redet. Sie hört zu, ist freundlich und etwas hölzern. Und sie ist auf unauffällige Weise sehr distanziert. Das ist ein Schutz – gegen die Zumutung, eine öffentliche Person zu sein. Es ist eine Tarnung. Und sie ist sogar echt.

Szenenwechsel. Zwanzig Kilometer weit weg von der Bundestagskantine, in einer anderen Welt. Petra Pau sitzt in der Küche von Pastor Hartwig Neigenfind. Der, ein robust wirkender Mann, schaut zum Fenster hinaus auf eine trost- und gottlose Umgebung: das Plattenbau-Nirwana von Berlin-Hellersdorf, den Wahlkreis von Pau. Neigenfind ist Pastor einer lutherischen Freikirche, er versucht seit sechs Jahren, das Christliche ins Herz der Atheismus zu pflanzen. Bei seinen Predigten, in einem 30 Quadratmeter großen früheren Kindergarten, hört auch schon mal ein Exwachmann des Stasi-Wachregiments Felix Dzierzynski zu. „Ein Bodyguard von Erich Honecker“, sagt der Pastor. Er stammt aus einer vom SED-Regime schikanierten Pastorenfamilien aus Mecklenburg. Aber Gott ist für alle da. Bei Pastor Neigefind wird niemand abgewiesen. Nur wer zu viel getrunken hat.

Der Pastor will etwas von der Politikerin. Er verteilt jeden Mittwoch Lebensmittel an Bedürftige. Gerechnet hatte er mit 20, es kommen mehr als 200. Morgens um sechs stehen die Ersten vor der Tür – obwohl erst um elf Wartenummern verteilt werden. „Die meisten kommen nicht wegen des Hungers, sondern weil sie wenigstens einmal in der Woche einen Termin haben“, sagt er. „Hartz IV“ sagt der Pastor. Pau nickt.

Ein größerer Raum muss her, der Bezirk muss informiert werden. Pastor Neigenfind wünscht sich ein bisschen Lobbyarbeit, so wie immer. Pau nickt. So wie immer. Das wird schon. Sie wird beim Helfen helfen. Sie war zur Taufe des Sohnes des Pastors eingeladen. Dem hat sie neulich eine CD mit Pionierliedern mitgebracht. Es ist ein bisschen wie Don Camillo und Peppone.

Der Himmel über Hellersdorf ist grau. Ordnungsgemäß beginnt es zu nieseln. Petra Pau wirkt in dieser Küche anders als im Bundestag. Sicherer, mehr bei sich. Sie schaut ihrem Gegenüber direkt in die Augen.