ROBIN ALEXANDER über SCHICKSAL
: Bei uns daheim im Ghetto

Schüsse peitschen, auf dem Spielplatz gibt es Drogen und die Rütli-Schule ist um die Ecke. Wir leben in Neukölln

Ich sehe es immer schon an der Vorwahl auf dem Display des Telefons: (0 23 **) * ** **. Meine Oma ruft an. Sie kommt aus einer Zeit, in der telefonieren noch teuer war. Also ruft sie nur an, wenn sie sich Sorgen macht. Da die meisten ihrer Freundinnen tot sind, sie einen Fernseher hat und den Videotext bedienen kann, macht sie sich allerdings ziemlich viel Sorgen.

– „Junge, geht es euch gut?“ fragt sie dann.

– „Klar, Oma“, sage ich. „Alles klar. Warum denn nicht?“

– „Ach, ich habe nur im Fernsehen gelesen, dass in Berlin ein Mietshaus gebrannt hat. Und da bin ich irgendwie ganz unruhig geworden …“

– „Oma, mach dir keine Sorgen. Bei uns ist alles klar. Weißt du, Berlin ist groß, Oma.“

So ging das ständig und irgendwann hatte ich keine Lust mehr, nach jedem Brand, jedem Supermarktüberfall, jedem schweren Verkehrsunfall und jeder Schießerei in der Hauptstadt zu Hause Entwarnung geben zu müssen. Deshalb habe ich meiner Oma genau erklärt, wo ich wohne:

– „In Neukölln, Oma. Ich wohne in Berlin-Neukölln. Nur was in Neukölln passiert, ist in unserer Nähe.“

Das war ein Fehler.

Denn seit zehn Tagen wird meiner Oma vom Videotext (und allen anderen Medien) erklärt, wo ihr Enkelsohn, seine Freundin und ihr Urenkel leben.

Im Slum.

Im Ghetto.

Dort, wo die Gewalt regiert.

Meine Oma ruft immer noch an, aber ich muss sie nicht mehr beruhigen. Es reicht ihr, wenn sie meine Stimme hört.

Ich möchte meine Oma hier nicht vorführen. Sie ist 88 Jahre alt und ihre Nerven haben sich von der Luftschlacht ums Ruhrgebiet nie erholt. Damit ist sie in etwa so cool wie die Reporter und Redakteure unserer Zeitungen, Magazine, Sender und Nachrichtenagenturen. Meine Freundin und ich sind selbst Journalisten, wir kennen viele andere Journalisten, ein paar wissen, dass wir in Neukölln wohnen, und haben unsere Nummer weitergegeben. Was soll ich sagen? Meine Oma hat sich wenigstens noch beruhigen lassen wollen.

Die Telefonate verlaufen immer ähnlich:

Gewalterfahrungen? Keine, tut uns leid.

Machokultur? Meine Freundin ist vor drei Jahren an einer Haltestelle von einem Unbekannten gefragt worden, ob sie mit ihm schlafen wolle. War aber kein Araber. Gilt also nicht.

Rütli-Schule? Dort war bei der Bundestagswahl unser Wahllokal. Nein, Einschusslöcher sind uns nicht aufgefallen.

Alteingesessene Neuköllner, berichtet unser Nachbar, haben eine Theorie entwickelt: Diese Art der Hysterie trete periodisch auf. Ungefähr alle sieben Jahre, sie beginne mit Artikeln im Lokalblatt Tagesspiegel und schaukle sich zu Spiegel-Texten hoch und klinge dann mit Fernsehbeiträgen und Bild-Schlagzeilen langsam aus. Das habe aber auch sein Gutes: Bei Mieterhöhungen in den vergangenen Jahren hefteten viele Neuköllner an den kommentarlosen Widerspruch einfach eine Kopie des letzten Spiegel-Artikels über den Bezirk: „Schüsse peitschen über die Straße“, stand schon im zweiten Satz. Unsere 85 Quadratmeter Altbau mit Parkett, Stuck, Balkon und Blick auf den Landwehrkanal kosten übrigens 530 Euro. Warm. Mit Nebenkosten. Aber das ist schon in Ordnung, schließlich werden auf dem Spielplatz gegenüber nachts Drogen verkauft.

Gestern Abend klingelt das Telefon schon wieder. Ich fürchte weitere Ghettorecherchen und will schon nicht mehr drangehen, da sehe ich die vertraute Vorwahl auf dem Display.

– Hey, Oma, alles klar, du machst dir bestimmt Sorgen, nicht wahr?

– „Ach, Junge“, sagt sie. „Ich hab den ganzen Tag im Fernsehen geguckt, was die da aus deinem Neukölln zeigen. Und ich wollte dir nur sagen: Als wir vor drei Jahren alle bei dir waren und spazieren gegangen sind an diesem Kanal mit den vielen Cafés, da war es wirklich sehr schön.“

Fragen zu Neukölln? kolumne@taz.de Montag: Arno Frank über GESCHÖPFE