Der Renegat

Francis Fukuyama verabschiedet sich vom Neokonservatismus und skizziert eine Alternative zur gegenwärtigen Außenpolitik

VON MARTIN ALTMEYER

Nach dem Ende des Kalten Krieges erklärte er die liberale Demokratie zum Sieger in der globalen Systemkonkurrenz. Und mit dem Ende der Ideologie rief er gleich das Ende der Geschichte aus. Er war ein Vertreter der libertären Linken und wandelte sich zum Vordenker einer auf der intellektuellen Rechten angesiedelten Strömung, die sich in ihrem Antikommunismus durch die Implosion des realen Sozialismus bestätigt fühlen durfte. Als neokonservative Denkschule gewann sie allmählich beträchtlichen Einfluss auf die US-amerikanische Außenpolitik.

Nun sagt sich Francis Fukuyama öffentlich vom Neokonservatismus los und liest seinen alten Freunden im Umfeld der Bush-Regierung die Leviten. In seinem Buch „Scheitert Amerika?“ unterzieht er die neokonservative Weltsicht einer scharfen Kritik. Die Lektüre lohnt schon deshalb, weil wir etwas aus der Innenwelt jener eifernden Weltveränderer erfahren, die spätestens nach dem 11. September 2001 im Zentrum der einzig verbliebenen Supermacht angelangt sind und dem amerikanischen Exzeptionalismus einen ordentlichen Schuss Leninismus beigemischt haben.

Es gehört zur Ironie dieser beispiellosen intellektuellen Erfolgsgeschichte, dass sie nun im weltpolitischen Desaster zu enden droht. Fukuyama zögert zwar, ob er im Namen der Theorie den neokonservativen Machern Verrat an den eigenen Prinzipien vorwerfen soll. Immerhin hätten sie den Vorbehalt gegenüber dem Nation-Building aufgegeben und versucht, die Intervention von außen bis in die Tiefe gesellschaftlicher Strukturen zu treiben. Er nimmt auch Leo Strauss, dessen metapolitische Ansichten er schätzt, gegen Leute wie Cheney, Rumsfeld oder Bush in Schutz. Letzten Endes verzichtet er aber auf den Anspruch auf das neokonservative Erbe: Er selbst ist der Abtrünnige, der sich zum Renegatentum und bekennt.

Das eigentliche Anliegen des geschichtsphilosophisch außerordentlich bewanderten und weltpolitisch weitsichtigen Professors für politische Ökonomie ist allerdings nicht die Abrechnung mit dem Neokonservatismus und seinen Irrtümern. Fukuyama skizziert in diesem Buch vielmehr die Grundzüge einer alternativen Außenpolitik, die er in Anlehnung an die Völkerbund-Visionen von US-Präsident Woodrow Wilson (1913–1921) einen „realistischen Wilsonianismus“ nennt. Vom missionarischen Interventionismus der Neokonservativen hebt er sich ebenso ab wie vom „klassischen Realismus“, der die inneren Verhältnisse in anderen Ländern ignoriert, solange die eigenen Machtinteressen nicht berührt sind.

Mit guten Gründen befürchtet er nämlich, dass die USA unter dem Eindruck des Irakkriegs aus dem Internationalismus eines aggressiven Demokratieexports in eine zynische, unter Nixon und Kissinger praktizierte Machtpolitik abgleiten. Oder, schlimmer noch: Sie könnten in jenen nationalistischen Isolationismus zurückfallen, der seit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung immer schon eine außenpolitische Option bildete. Aber auch den europäischen, auf eine multilaterale Weltordnung unter der Ägide der UNO setzenden „liberalen Internationalismus“ sieht er kritisch.

Ausgehend von den vier miteinander konkurrierenden „Schulen“ der Außenpolitik (der national-isolationistischen, der neokonservativ-missionarischen, der zynisch-realistischen und der liberal-multilateralen) propagiert Fukuyama seinen eigenen Ansatz als eine Art Mixtur. Mit dem Neokonservatismus teilt er dessen moralischen Impetus, etwa die Orientierung an Freiheits- und Menschenrechten. Er setzt dabei eher auf die innergesellschaftlichen Kräfte als auf einen militärisch eskortierten Demokratieexport und erzwungenen Regimewechsel. Prinzipiell möchte er den allerdings nicht ausschließen.

Vom Realismus übernimmt er dessen pragmatische Haltung gegenüber einer ernüchternden Weltwirklichkeit, verwirft aber die Doktrin von der Nicht-Einmischung in innere Angelegenheiten fremder Staaten. Eine zusammenwachsende Weltgesellschaft könne es sich schließlich nicht leisten die Existenz von Failed States zu ignorieren. Und am europäischen Multilateralismus schätzt er, dass dieser die internationale Legitimität von Interventionen verlangt, die aber nicht mit Tatenlosigkeit oder mangelnder Effektivität erkauft werden dürfe und im Übrigen nicht allein durch die UNO hergestellt werden könne.

Was Fukuyama in seiner außenpolitischen Vision eines „multiplen Multilateralismus“ vorschwebt, ist nichts anderes als eine Weltinnenpolitik, die das in liberal-demokratischen Gesellschaften geltende Prinzip der Gewaltenteilung auf die internationale Ebene hebt: Denn: Nur im Rahmen einer durch horizontale Kontrollnetzwerke gesicherten Gewaltenteilung im globalen Maßstab ließen sich die sozioökonomischen Entwicklungsbedürfnisse der Welt mit ihrer politischen Demokratisierung unter einen Hut bringen.

Francis Fukuyama: „Scheitert Amerika? Supermacht am Scheideweg“. Aus dem Amerikanischen von Udo Rennert, Propyläen Verlag, Berlin 2006, 20 Euro