Cocktails für Bedürftige

KULTUR FÜR ALLE Die Berliner Kulturloge vergibt ab Ende April Freitickets an Arbeitslose und Geringverdiener. Der Einkommensnachweis an der Kasse entfällt damit. Doch dem freien Zugang zur Kultur stehen nicht nur materielle Grenzen entgegen

„Kultur für alle“ ist nicht mehr das Flaggschiff einer Demokratisierung über den Weg der Bildung

Ihr Logo ist ein Schlüssel auf leuchtend rosa Untergrund. Als solcher Schlüssel versteht sich die Kulturloge Berlin: Der Verein will ab 26. April Arbeitslosen und Geringverdienern den Zugang zu kulturellen Einrichtungen verschaffen. Wer sich den Besuch im Theater nicht leisten kann, soll zu bestimmten Veranstaltungen Freitickets bekommen können. Und das, ohne an der Kasse einen Bedürftigkeitsnachweis vorlegen zu müssen.

Der Besucher dürfe sich „nicht gebrandmarkt“ fühlen, als einer, der um Einlass bitten muss, erklärt Angela Meyendorf, Initiatorin der Kulturloge Berlin. „Wir wollen diese Leute einladen, wieder mehr an der Gesellschaft teilzunehmen.“ Das Konzept orientiert sich am Prinzip der „Tafel“. Die Kulturloge vermittelt Restposten. Eintrittskarten, die ein Veranstalter nicht verkaufen kann, überlässt er dem Verein. Der vermittelt die Tickets dann per Telefon und gibt sie kostenlos an Bedürftige aus ihrer Kartei weiter. An der Abendkasse holen die Besucher die Karte ab.

Bundesweit geplant

Besucher der Berliner Tafel oder des Arbeitslosenfrühstücks St. Ludwig füllen bei Interesse vor Ort eine Anmeldung aus. Dort legen sie einmalig einen Einkommensnachweis vor. Danach stehen ihnen derzeit 15 Veranstaltungsorte offen. Darunter der Admiralspalast, das Literaturhaus, der Heimathafen Neukölln.

„Ideal wäre ein bundesweites Netz von Kulturlogen“, sagt Meyenburg. Anfang des Jahres hatte man in Marburg das Projekt gestartet. Rund 300 Tickets sind dort seitdem über den Tisch gegangen. Hört man die Organisatoren sprechen, dann schimmert da ein alter Traum durch. Von Kultur als Gemeinschaftserlebnis. Von Kultur als Integrationsmittel. Von einer „Kultur für alle“, wie das einmal der Kulturtheoretiker Hilmar Hoffmann formulierte.

Damals in den Siebzigern war jenes Plädoyer in eine intellektuelle Demokratiedebatte mit Wurzeln in den Spätsechzigern eingebettet. Der Psychologe Alexander Mitscherlich beklagte die „Unwirtlichkeit der Städte“ und sprach sich für mehr Integration im kulturellen Leben zur Bereicherung der Lebensqualität aus. Die Nähe zum Individuum schien wichtig. Die unmittelbare Umgebung der Stadtbewohner. Ähnlich basiert die Kulturloge mehr auf den kleinräumigen Strukturen der Kommunen. Von Marburg also nach Berlin. Von dort aus nach Hamburg und Paderborn. Erste Kontakte habe man bereits geknüpft. Netzwerke gespannt.

Nur: Die Forderung nach einer Demokratisierung der Kultur genügt 40 Jahre nach jenem Credo womöglich nicht mehr. Denn es geht nicht länger um die Aufweichung tatsächlicher intellektueller Eliten. „Kultur für alle“ ist nicht mehr das Flaggschiff einer Demokratisierung über den Weg der Bildung und Aufklärung. Geringverdienen wird immer mehr zum gesamtgesellschaftlichen Phänomen. „Vom Hochschulabsolventen zum Hauptschulabgänger ohne Abschluss ist alles vertreten“, sagt Monika Friess vom Marketing der Kulturloge Berlin. Das Publikum ist heterogen, lässt sich nur schwer über einen Kamm scheren.

Und es birgt Einzelschicksale: Von einer Jugendlichen, die allein von ihrer 90-jährigen Großmutter aufgezogen wird, berichtet man aus Marburg. Von Eltern, die nach dem Tod eines Kindes ihre Hände nicht mehr rühren können und ihre Arbeit aufgeben müssen. Von einem Einwanderer aus Russland, der irrtümlich dachte, in Deutschland würde alles besser.

Die „Würde“ ist auch subjektiven Zwängen unterworfen

Eine Utopie?

Das Projekt trifft zwar einen Knackpunkt: Manch einer, der früher nur durch Vorlage des Hartz-IV-Ausweises ermäßigt ins Konzert kam, mag die Situation an der Abendkasse als würdelos empfunden haben. Doch mit der Würde ist es kompliziert. Sie unterliegt nicht nur der Öffentlichkeit. Sie ist auch subjektiven Zwängen unterworfen. Das Eingeständnis, finanziell nicht dazu zu gehören, impliziert ein Klassenbewusstsein. Es geht um Stolz, um Verletzlichkeiten, die durch gesellschaftliche Erwartungen geleitet sind. „Einmal kam ein Obdachloser an unsere Theaterkasse, leerte eine Tasche mit 10-Cent-Stücken auf unserem Tisch aus und wollte partout nicht umsonst rein“, berichtet Caro Huder, Geschäftsführerin des Heimathafen Neukölln.

Jenes Hemmnis kann auch durch die Kulturloge möglicherweise nicht ganz gelöst werden. Denn das Projekt kann nur in ohnehin schon bestehenden Einrichtungen für Arbeitslose und Sozialhilfeempfängern informieren, den Tafeln, AWO, Moabiter Ratschlag. Wer aus Scham von dort wegbleibt, wird auch nicht die Kulturloge in Anspruch nehmen. Hier tut sich eine gefühlte – und paradoxerweise selbst gewählte – Kluft zwischen Cocktailgesellschaft einerseits und „Bedürftigen“ andererseits auf. Die Auflösung jener tiefer liegenden soziokulturellen Mechanismen bedarf einer langfristigen Entwicklung. Die Verwirklichung einer „Kultur für alle“ erscheint als ähnlich abstrakte Utopie wie die Gleichheit aller Menschen. Vielleicht muss man weiterhin träumen. ISABEL METZGER