Die Unentschiedenen

WER VOR DER WAHL STEHT Vor allem um deren Stimmen kämpfen die Parteien im Schlussspurt: 34 Prozent der Wahlberechtigten wissen noch nicht, ob und für wen sie stimmen werden, so die Zahlen der Forschungsgruppe Wahlen. Wer sind die Wankelmütigen, Schwankenden, Zaudernden? Eine kleine Typologie VON ANNA KUSSEROW UND BERND KRAMER

Die VagabundInnen

Links, rechts, links: Der Parteienvagabund wandert einmal das gesamte Spektrum ab und wieder zurück. Er rühmt sich im Bekanntenkreis damit, wie unterschiedlich er schon gewählt hat. Wechsel ist für ihn das Wesen der Demokratie, und er versteht sich als Demokrat erster Güte. Nicht seine persönliche Überzeugung steht im Mittelpunkt, sondern das große Ganze. Nach vier Jahren Schwarz-Gelb müssen andere ran, denkt er sich. Dass er ebendiese Koalition zuvor mit seiner Stimme herbeigewählt hat? Egal.

Der Begriff Treue ist dem Parteienvagabunden fremd. Mal eine kleine chancenlose Partei als Impulsgeber wählen, mal der Volkspartei zur Regierungsübernahme verhelfen: Sein Kompass ist nicht liberal oder konservativ. Er genießt es, für die Politik unberechenbar zu bleiben. Den Wahlzettel versteht er als gut sortierten Speiseplan.

Restriktionen hat der Vagabund keine: Die kann ich doch nicht wählen? Alles kann ich wählen! Immerhin stehen dieses Jahr 34 Parteien zur Auswahl. Doch die Freiheit ist auch immer eine Qual, das lehrt schon die Psychologie: Eine Entscheidung zu treffen fällt Menschen umso schwerer, je mehr Alternativen sie haben. Sie sind anschließend auch unzufriedener mit ihrer Entscheidung. Vielleicht fällt dem Parteienvagabunden die Wahl ja deshalb auch jedes Mal aufs Neue so schwer, vielleicht hält er sich deswegen bis zum Schluss alle Optionen offen – egal ob bei Bundestags-, Landtags- oder Kommunalwahl.

Den Parteienvagabunden schätzen Meinungsforscher zwar eher als ein seltenes Phänomen ein, so lose sind die Bindungen zu Parteien bei den meisten Wählern nun doch noch nicht. Aber es gibt ihn. So wanderten laut Infratest bei der Bundestagswahl 2009 insgesamt vom linken Lager aus SPD, Grünen und Linker 24,8 Prozent der bisherigen Wähler ins andere Lager aus CDU und FDP. Umgekehrt wechselten 12,15 Prozent von CDU und FDP nach links.

Die HedonistInnen

Sein erstes Mal hat er schon hinter sich. Damals hat er sich alles ganz genau überlegt, wollte sich ganz sicher sein. „Das erste Mal wählen ist für die Debütanten etwas Besonderes“, sagt Meinungsforscher Hermann Binkert vom Institut für Neue Soziale Antworten. Vier von fünf Erstwählern sagen, dass sie sich an der Bundestagswahl beteiligen wollen. Sie sind Binkert zufolge neben den Älteren der wahlfleißigste Teil der Bevölkerung. Schwierig wird es in der Mitte, da setzt die Ratlosigkeit ein. Der Nervenkitzel vom Anfang ist verflogen und die späte Gewissheit noch nicht da. Entsprechend sackt die Wahlbeteiligung unter den Zweitwählern ab: 2009 war sie in der Altersgruppe zwischen 21 und 25 am niedrigsten von allen.

Und irgendwie wirkt da ja tatsächlich vieles so fern: Elterngeld, Ehegattensplitting, Vermögensteuer? Renteneintrittsalter? Keine Ahnung. Der Nicht-mehr-Erstwähler findet die Piraten cool. Die sind für Netzfreiheit, mit dem Internet kann er etwas anfangen. Aber sind die eine richtige Partei? Machen mich meine Kirchgänge zum Konservativen? Und ist Angela Merkel nicht eigentlich doch eine ganz sympathische Kanzlerin? Wo war noch mal das Problem? Die Suche nach der richtigen Partei ist auch ein Stück der Suche nach sich selbst.

Diesen Unentschlossenen heftet eine Studie der Werbeagentur Mediaplus daher auch das Label Hedonisten an. HedonistInnen wählen eher situativ, probieren aus, das Wählen ist eher eine Stil- denn eine Überzeugungsfrage. Als AbiturientInnen stimmen sie vielleicht noch für die Grünen, weil sich das so hippiehaft anfühlt. Im zweiten Semester Jura machen sie ihr Kreuz dann bei der FDP, weil das nun besser zum Lebensgefühl passt. „Je jünger die Wahlberechtigten, desto politisch offener sind sie“, meint Binkert. „Je älter, desto festgelegter ist die Affinität.“ Und Holger Geißler vom Demoskopieinstitut YouGov bestätigt: „Eine klare Tendenz ist, dass die Unentschlossenen die unter 40-Jährigen sind.“

Die Taktierenden

Wer taktisch wählt, weiß im Prinzip längst, was er will. Entweder links. Entweder rechts. Kein großes Oder, nur ein kleines, das aber umso bedachter.

Taktierende nehmen es genau, ihnen geht es um die Feinabmischung der Farben. Etwas mehr Grün oder etwas mehr Rot? Etwas mehr Gelb oder etwas mehr Schwarz? „Ein Großteil der Unentschlossenen steht nicht vor einer Entscheidung zwischen den Lagern, sondern schwankt zwischen den Parteien eines Lagers“, sagt Emnid-Chef Klaus-Peter Schöppner.

Die Unentschlossenheit der Taktierenden erspringt nicht der Ratlosigkeit, sondern dem Kalkül. Begierig lesen sie alle Wahlumfragen, berücksichtigen statistische Fehlertoleranzen und kalkulieren in einem bisweilen komplexen mathematischen Schätzmodell den Leihstimmenbedarf einzelner Parteien oder die mögliche Zahl der Ministerposten je nach Stärke der potenziellen Koalitionspartner. Die Wahl ist ein riesiges spieltheoretisches Experiment. Vielleicht tendieren sie zur SPD und wählen dann im letzten Moment die Grünen.

Für den Taktierer können auch Umwege zum Ziel führen. Manchmal verschraubt sich sein Kalkül ins Tollkühne. Taktierern mag es sinnvoll erscheinen, gegen jede Überzeugung der AfD ihre Stimme zu geben, um einer rechten Splitterpartei zum Einzug ins Parlament zu verhelfen und so Schwarz-Gelb zu verunmöglichen. Sie überschätzen tendenziell ihren Einfluss auf das Wahlergebnis. Jede Stimme zählt, vor allem die eigene.

Die Entscheidung trifft der Taktierer spät. Briefwahl kommt nicht in Betracht, weil der Taktierer dann nur auf vorläufiger Informationsgrundlage entscheiden müsste. Noch in der Wahlkabine scannt er auf dem Smartphone die Stimmungslage bei Twitter. Mit den vielen Spätentschlossenen begründen Meinungsforscher auch, dass sie in diesem Jahr selbst kurz vor der Wahl noch Umfrageergebnisse veröffentlichen. Sogar in der Nacht zum Wahltag will die Bild am Sonntag neuste Zahlen kundtun. Früher galt das als Unsitte.

Helmut Jung vom Meinungsforschungsinstitut GMS verortet die taktischen Wähler vor allem im bürgerlichen Lager: „Etwa die Hälfte derjenigen, die angeben, FDP wählen zu wollen, sind auf weitere Nachfrage unsicher.“

Die Verunsicherten

Das Abwägen und Wählen bereitet Verunsicherten keinen Genuss, sondern Bauchschmerzen. Sollen sie grummelnd für das kleinere Übel stimmen? Wieder bei der Partei das Kreuz setzen, die früher schon alle Hoffnungen so bitter enttäuschte? Ein Zeichen setzen? Einmal ganz anders wählen? Verunsicherte erwarten nicht viel von der Politik, sie fühlen sich missverstanden oder gar abgehängt. Das macht die Entscheidung so schwer. In armen Stadtteilen liegt die Wahlbeteiligung bereits mitunter 40 Prozentpunkte unter der in den besser situierten Quartieren.

Wenn der Verunsicherte wählt, dann oft, um seinem Unmut Ausdruck zu verleihen. „Protestwähler sind ideologisch nicht festgelegt. Sie wählen da, wo es am ehesten wehtut“, sagt Emnid-Chef Klaus-Peter Schöppner. Auf etwa 6 Prozent der Wahlberechtigten beziffert er diese Gruppe der Unentschlossenen. Natürlich wird das Protestwählen damit zu einem ähnlich berechnenden Verhalten wie das taktische Wählen, nur dass das Bauchgefühl ein ganz anderes ist. In diesem Jahr, sagt Schöppner, gesellten sich zu dieser Unentschlossenengruppe auch noch Unionsanhänger, denen ihre Partei zu soft geworden ist. Dieser eher bürgerliche Teil der Verunsicherten grübelt, ob er seine Stimme der AfD geben soll. Andererseits: Will man so weit wirklich gehen? Laut Hermann Binkert vom Institut für Neue Soziale Antworten trauen sich Protestwähler eher bei Landtagswahlen aus der Deckung; deswegen konnten die Piraten als neue Partei bisher auch eher auf Landesebene reüssieren. Die Bundestagswahl ist heilig, man schwankt und schwankt in seinem großen Unbehagen und stimmt dann doch vergleichsweise traditionell. Oder eben gar nicht.