Der Duft der neuen SPD

Die Sozialdemokraten sind mittlerweile genauso säkularisiert und liberalisiert wie die bürgerlichen Parteien. Sie kennen längst keine weltanschaulichen Fixierungen mehr

Gerade Kurt Becks ostentative Klein-bürgerlichkeit ist Voraussetzung für eine breite soziale Allianz

Was ist nur mit der SPD los? Was ist in die einst so berechenbare Traditionspartei gefahren? Von Wahl zu Wahl laufen ihr mehr Anhänger weg, ihre Mitglieder ziehen sich peu à peu in die Passivität zurück, und ihre Vorsitzenden machen sich seit den späten 1980er-Jahren serienweise und verblüffend schnell aus dem Staub.

Wie ist das alles zu erklären? Will man es polemisch, aber keineswegs ganz abwegig formulieren, so könnte man es auf den Punkt bringen: Die Sozialdemokratie FDP-isiert. Sie wird allmählich so, wie es die liberal-bürgerlichen Individualisten freisinniger Tradition seit jeher waren. Bei den Liberalen ging es nie anders zu, die Bürgerlichen waren stets unkalkulierbar. Ihre Anführer wurden, wenn sich unmittelbarer Erfolg nicht einstellte, rasch in die Wüste geschickt; oder sie zogen freiwillig die kommode Existenz als Privatier vor. Überdies kannte das liberale Establishment keine festen Organisationsstrukturen, keine weltanschaulichen Fixierungen, kein geschlossenes kämpferisches Milieu.

Bei der SPD war das über mehr als ein Jahrhundert anders. Sie stellte die Repräsentantin eines großen homogenen sozialkulturellen Lagers dar. Disziplin spielte eine gewichtige Rolle, auch normative Verbindlichkeit. Die Partei hatte schlimme Jahre der ausgrenzenden Daueropposition erlebt, was innerparteilich Eintracht, Solidarität und straffe Gefolgschaft gegenüber einer dadurch souveränen Parteiführung garantierte. Sehr liberal und meinungspluralistisch ging es in ihr oft nicht zu. Aber Chaos, Turbulenzen, Unberechenbarkeiten, nonchalante Führungswechsel musste niemand befürchten.

Mit alledem ist es nunmehr seit wohl rund 20 Jahren vorbei. Die Zeit der klassischen Lager ist um. Die Welt des Industrieproletariats ist untergegangen, die Anhängerschaft der SPD mittlerweile individualisiert, schwerer in die Uniformität des Parteigehorsams hineinzuzwingen. Und so bleiben auch Parteivorsitzende nicht mehr lange in ihrem Amt. Die SPD ist genauso säkularisiert, entmythologisiert, utilitaristisch wie die bürgerlichen Parteien schon lange zuvor.

Eben all das führte in die Putsche und erratischen Kurswechsel, die in der SPD seit dem Abgang von Willy Brandt 1987 nachgerade chronisch geworden sind. Das alle mündete in einen rasanten, oft ganz begründungslosen Austausch des Führungspersonals. Schließlich hatte die Partei auch im November 2005 nie eine wirkliche Diskussion darüber geführt, was denn eigentlich Matthias Platzeck für sein herausragendes Amt befähigen mochte. Schließlich besaß er keine Parteierfahrungen. Durch interessante Ideen war er niemals aufgefallen. Seine programmatischen Äußerungen waren atemberaubend eklektisch und erschütternd naiv.

Hinzu kam: Bei der gerade vorangegangenen Bundestagswahl hatte die SPD ausgerechnet in Brandenburg Rekordverluste von 10,6 Prozentpunkte erlitten. Die SPD-Gremien hatten also im Herbst 2005 – nochmals: ohne jede Debatte und Reflexion – einen Politiker an die Spitze gehievt, der gegen all die Probleme, die der Partei seit den späten 1980er-Jahre zu schaffen machten, nicht das Geringste getan hatte.

Ist von Kurt Beck mehr zu erwarten? Obwohl auch jetzt wieder nicht lange über Tauglichkeit und Perspektiven debattiert, scheint er besser geeignet als Platzeck für den Chefposten. Parteien sind komplizierte Organisationen mit oft komplizierten Menschen und einer langen, bewegten Geschichte. Man muss einen solchen Verein mit all seinen Macken und Neurosen, mit seinen Begabungen und Schwächen, mit seinen Hoffnungen und Ängsten gut kennen, um ihn kongenial zu führen. Platzeck war darin ein Greenhorn, Beck ist es nicht.

Ein Plus ist gewiss, dass Beck nicht die smarte Neumittigkeit ausstrahlt, die zwar in der Journaille gut ankommt und auf Symposien von Bankern und Versicherungsmanagern goutiert wird, die Sozialdemokratie aber von ihrer früheren Anhängerschaft lebensweltlich entkoppelt hat. Gerade dieser habituell konservative Auftritt Becks hat die SPD im schwarz-ländlichen Rheinland-Pfalz zur Volkspartei gemacht; gerade die ostentative Kleinbürgerlichkeit war Voraussetzung für die breite soziale Allianz, die die Sozialdemokraten dort schmiedeten und die ihnen die absolute Mehrheit einbrachte. Das wird künftig auch in der Bundespolitik das Muster liefern: In einer ergrauenden Gesellschaft werden nicht forsche und schneidige Dynamiker bei Wahlen reüssieren, sondern Politiker, die Ruhe, Erfahrung, Empathie, lebenskluge Weisheit ausstrahlen.

Nur: Kurt Beck wäre nicht der erste erfolgreiche Landespolitiker, dessen Stern rasch verglüht, wenn er in die Atmosphäre der Bundespolitik eindringt. Landesfürsten mit Bodenhaftung brauchen ihre Regionen, von der Mundart bis zur Weinkönigin, um sicher und souverän zu wirken. Jenseits dieser Regionen agieren sie oft starr, misstrauisch, unbeholfen. Entscheidend aber für die Zukunft Becks ist, wie er mit dem „Problemfall SPD“ fertig wird. Beck ist ebenso wenig ein Denker und Programmatiker wie Platzeck. Aber er wird die bislang matten und unstetigen Zielfindungsversuche der SPD forcieren, dirigieren und zu einem Abschluss bringen müssen.

Die SPD ist nicht mehr die Partei von Bergleuten und Zechenarbeitern. Aber was ist sie? Ihre Herzkammer liegt nicht mehr in Dortmund. Aber wo stattdessen? Ihre Anhänger riechen nicht mehr nach Kohlenstaub und Maschinenfett. Aber was ist der Duft der neuen SPD? Was ist ihr Subjekt? Was ist ihr Ethos? Was das Ziel? Beck muss das alles nicht selber beantworten. Das konnten schließlich auch Bebel und Brandt nicht. Aber Beck muss diesen Orientierungsprozess organisieren, so behutsam wie kräftig, so umsichtig wie zielstrebig, so zäh wie raffiniert.

Platzeck besaß keine Parteierfahrung. Durch interessante Ideen war er niemals aufgefallen

Leicht wird das für ihn nicht. Ab heute schon sind es nicht allein gemütliche Landeszeitungen, die ihn gönnerhaft porträtieren. Ab heute steckt er mitten in der Schlangengrube der Berliner Politik. Jeder Fehler wird unbarmherzig festgehalten und über die Medien tausendfach hämisch multipliziert. Die Berliner Intrigen und das undurchsichtige Spiel über Bande muss er noch lernen. Und jeder Parteivorsitzende steckt unvermeidlich in einer Erwartungsfalle. Die einen wünschen Integration und Stabilität; die anderen wollen originäre Ideen, unkonventionelle Inspiration, schwungvolle Veränderungen. Zufrieden ist am Ende meist keiner.

Im Grunde sollte Beck es nicht so machen, wie sein Vorgänger im Amt des rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten. Rudolf Scharping strebte 1993/94 das Ganze an: Parteivorsitz und Kanzlerkandidatur, Organisation und Programmatik. Gute Parteichefs kennen auch ihre Schwächen und Begrenzungen. Sie suchen sich daher komplementäre Bündnispartner, die ausgleichen, was sie an Defiziten tragen. Will Kurt Beck alles, wird er scheitern. Ergänzt er sich, dann kann es gut ausgehen.

FRANZ WALTER