Relikte Maos und die Erben

CHINA Die Kulturrevolution und die Gegenbewegungen in der Zeit danach sind das Thema der Autorin Yiyun Li. Diese Woche las sie im Literarischen Colloquium Berlin am Sandwerder aus ihrem Debütroman „Die Sterblichen“

■ geb. 1972, wuchs in Peking auf. 1996 ging Yiyun Li zum Studium in die USA, und blieb dann auch dort. Ihr Schreibtalent entdeckte sie in verschiedenen Workshops. Für ihren Kurzgeschichtenband „A Thousand Years of Good Prayers“ wurde sie mit dem PEN/Hemingway Award und dem Guardian First Book Award ausgezeichnet. „Die Sterblichen“ (Hanser Verlag, 2009) ist ihr erster Roman. Foto: Alex Hewitt/Writer Pictures

Als Yiyun Li 18 war, schickte die Universität von Peking sie in ein Umerziehungscamp der chinesischen Armee. „Blutaustausch“ nannte man das damals. Die Pekinger Studenten galten als besonders aktiv in den Protesten um das Tiananmen-Massaker von 1989. Yiyun Li schrieb damals antistudentische Propagandatexte. Sie tat es, wenn auch widerwillig. Denn das Schreiben bot einen angenehmen Ersatz für die übrigen Disziplinarmaßnahmen.

Das ist die eine Geschichte. Die andere handelt von einer Schriftstellerin, die als Kind die Folgen der Kulturrevolution miterlebte. Die die oft brutalen Denunziationszeremonien politischer Gegner mit eigenen Augen sah. Und die jene Erlebnisse nun immer wieder in ihren Geschichten reflektiert.

So in ihrem Debütroman „Die Sterblichen“, den sie in dieser Woche im Literarischen Colloquium Berlin vorstellte. Nüchtern, fast kaltschnäuzig beschreibt die heute in den USA lebende Autorin das Provinzleben in der Post-Mao-Ära. Den Ausgangspunkt bildet die Hinrichtung einer Konterrevolutionärin. Ein Ereignis, das bei den Bewohnern einer fiktiven Kleinstadt innere Konflikte freilegt. Ein unausgegorenes Verhältnis zu Revolution und Gegenrevolution.

Gegen den Strom der Zeit

Gewalt, Missgunst, Misstrauen regieren unter den Menschen. „Keine schmeichelhafte Beschreibung Chinas“, gibt Li zu. Dort wäre der Roman wohl nicht durchgegangen. Schon kommen die erwarteten Fragen nach Lis politischer Einstellung: Hat sich die Situation in China seit 1979 verändert? Verhielt sich die chinesische Regierung nicht sehr dreist, als sie geladene Autoren der Frankfurter Buchmesse mundtot zu machen versuchte? Li beantwortet geduldig. Ja, ein unreifes Verhalten. Und: Das Internet stelle eine neue Plattform für das Ausleben alter Denunziationsmentalität. Li bleibt ruhig und unemotional dabei, fast ein bisschen lächeln muss sie über „ihre Chinesen“.

„Ich habe kein Problem damit, wenn Menschen den Roman ein politisches Buch nennen. Aber darum bin ich noch lange keine politische Schriftstellerin. Hinter meiner Arbeit steckt keine Agenda.“ Man dürfe die Autoren aus China nicht in eine Ecke sperre, meint sie, von ihnen erwarten, dass sie sich immer eindeutig zu dem Ist-Zustand in China äußern. Li ist keine, die auf die Pauke haut. Auch keine wie Dai Qing – die Journalistin war bei dem Zwischenfall der Frankfurter Buchmesse in den Fokus der Medien geraten. Wie sehr man sie auch über den politischen Kamm scheren möchte, man bekommt sie nicht zu fassen. Denn ihre Literatur ist ambivalent, weist in keine klare Richtung, meint keine Agitation.

Die Menschen in ihrem Roman sind den Zwängen des kommunistischen Spitzeltums unterworfen. Vertrauen scheint nicht möglich, wo alle irgendwie zu Tätern und Opfern gleichermaßen werden: Ein Schuljunge versucht sich hier durch Denunziation seines Vaters als Vorzeige-Kommunist hervorzutun. Ein arbeitsloser Jugendlicher sucht mit Schwindeleien und diversen Rattengift-Anschlägen die Gunst seiner Mitbewohner zu erheischen. Eine Radiosprecherin vernachlässigt ihre Familie, um ihr Leben der Konterrevolution zu opfern. Die Charaktere greifen zu äußersten Mitteln.

Aber die Mittel entsprechen ihrer Umgebung, dem System, in dem sie aufwachsen.

Kampflos abgegangen

„Mich interessiert, wie Menschen in bestimmten Situationen handeln, wie sie sich entwickeln“, sagt Li. Und äußert sowohl Abneigung als auch Verständnis für ihre Figuren: „Sie repräsentieren die komplexen Pole menschlicher Natur. Sie tun viel Schlechtes, aber mit menschlichen Absichten.“

Ihre Charaktere sind keine Helden und keine Teufel. Sie sind das Produkt ihrer Zeit und ausnahmslos menschlich – nicht unbedingt chinesisch, erklärt die Autorin: „Wenn jemand ein Buch von mir liest, dann soll er sagen können: Das hätte auch in New York passieren können.“

„Die heutige Dichtergeneration in China versagt insgesamt leider.“

Es geht ihr um die beinahe wissenschaftlich akribische Beobachtung von Menschen, wie sie sich im Strom ihrer Zeit winden und wenden. „Es reicht nicht, eine Geschichte einfach in China spielen zu lassen, sich nur auf die Geschichte zu verlassen.“

Sie plädiert für eine Überzeitlichkeit von Literatur, eine Überörtlichkeit. „Situationen ändern sich. Aber Menschen ändern sich kaum.“ Eine leidenschaftliche Beobachterin sei sie. Da wird man dann hellhörig: Ist es nicht bequem und unverantwortlich, sich in die USA zurückzuziehen und dann aus den politischen Angelegenheiten dezent herauszuhalten? „Die heutige Dichtergeneration in China versagt insgesamt leider“, gibt sie zu. „Viele von uns wandern aus. Was heißt: Wir werden nicht kämpfen.“ Und dann fügt sie noch hinzu: „Realistischerweise ist allerdings auch ein Dichter nur ein Mensch. Trägt er also mehr Verantwortung als sein Nachbar?“ Yiyun Li versteht sich nicht als Stimme Chinas. „Ich würde mich als internationale Autorin bezeichnen.“ Sie gehört zu den Autoren, die in der Veranstaltungsreihe am LCB sehr global unter „global literature“ subsumiert werden. Eine Grenzgängerin.

ISABEL METZGER