Cuba revisited

Fünfzehn Personen suchen einen Übersetzer. Reise eines Autors zu seinen Romanfiguren

von MATTHIAS POLITYCKI

Santiago de Cuba, am südöstlichen Zipfel der Insel malerisch in einer Bucht gelegen, ist so ziemlich das Gegenteil dessen, was uns Buena Vista Social Club und Gutiérrez-Romane an Kuba-Klischees erfolgreich vorgegaukelt haben: Hier, 1.000 Kilometer entfernt von Havanna, ist das Straßenbild in jeder Hinsicht schwärzer als in der Hauptstadt, und unter dem löchrigen Deckmantel eines real gerade noch existierenden Sozialismus herrschen afrokubanische Religionen, von deren Ritualen wir ausgerechnet nur die allerschauerlichsten Voodoo-Versionen mit scheinheiligem Entsetzen zur Kenntnis nehmen.

Als ich mich im Jahre 2002, zwecks Recherche zu einem Roman über ebenjene „dunklen“ Seiten Kubas, für einige Monate in Santiago eingemietet hatte, öffnete man mir bereitwillig Tür und Tor, selbst zum geheimen Kult des Palo Monte, einer Schwesterreligion des Voodoo. Freilich nicht ohne zu betonen, dass man selber gern vorkäme im Roman. Unterm eignen Namen? Ja wie denn sonst, man solle doch erkannt werden! Dann würde man allerdings ausnahmslos in eine dunkle Rolle schlüpfen müssen, drohte ich, das Personal des Romans stehe nämlich schon fest. Kein Problem, freute man sich. Also gut. Ohnehin wär’s kaum möglich gewesen, in dieser für einen Westeuropäer rätselhaften Welt einfach frech draufloszufabulieren, die Realitäten in glaubwürdige Fiktionen umzulügen. Zurück in Deutschland, bekam ich ob jenes leichthin gegebenen Versprechens freilich kalte Füße. Der Justitiar meines Verlags formulierte Verträge auf Deutsch und auf Spanisch, in denen die kubanischen Originale der Romanfiguren explizit auf ihre Persönlichkeitsrechte verzichteten; sie kamen mit dem Zusatz zurück, man sei „aus vollem Herzen dankbar, als Figur dieses wunderbaren Romans ausgewählt worden zu sein“. Nun gab es keine Ausreden mehr, nur noch die Grenzen des guten Geschmacks. Die Frage war freilich, wie mein kubanisches Romanpersonal die Verarbeitung zu literarischen Figuren aufnehmen würde, sobald sie in gedruckter Form vorlag – begeistert, reserviert, verständnislos, zornig?

Mit den entsprechenden Bedenken fuhr ich nach der Veröffentlichung des Buches im März diesen Jahres zurück an den Ort der Handlung. Höchste Zeit, meinem Romanpersonal ein kleines Fest auszurichten! Es stellte sich heraus, dass die Veröffentlichung des Romans bereits zu einigen Veränderungen vor Ort geführt hatte: Etliche Leser waren in Luisitos „Casa el Tivolí“ abgestiegen, der Wohnung des deutschen Romanprotagonisten, was ihm zusätzliche Touristendollars eingebracht hatte und zusätzliche Neider. Cuqui beabsichtigte, auf seiner nahe gelegenen Terrasse ein Restaurant mit dem deutschen Namen „Herr der Hörner“ zu eröffnen; bei den zuvor nötigen Reparaturarbeiten am Fundament hatte man ihm allerdings gepanschten Zement angedreht, er hatte umgerechnet 60 Euros verloren, ein Vermögen. Angelita, Wirtin des als Romanschauplatz verarbeiteten „Balcon del Tivolí“, empörte sich, dass sie im Buch nicht mal erwähnt war. Überhaupt war man gern auf andere Romanfiguren-Originale eifersüchtig, hatte sie im Verdacht, die vorbeikommenden Deutschen „für sich behalten zu wollen“. In einem Brief an meinen Verleger, „Sr. Editor de la Novela Herr der Hörner, Alemania“, bitten fünfzehn namentlich aufgelistete Romanfiguren-Originale um eine spanische Ausgabe, versichern ihm, dass „todo América“ das Buch lesen werde. Was sie nicht ahnen konnten: Die deutschen Leser waren ihnen zuvorgekommen. Hatten in diversen Zettelbotschaften, die mir Luisito bei meiner Ankunft feierlich überreichte, nicht nur ihre Lektüreeindrücke hinterlassen, sondern auch Adressen kubanischer Germanisten, die das Werk bestimmt gern übersetzen würden. Aber ich führte das Gespräch ja lediglich als Privatperson, das Recht zur Lizenzvergabe liegt beim Verlag, und so werde ich meinem Verleger demnächst auch einige Zettel vorlegen.

Überhaupt, die Leser! Sie waren bis in die verwinkelten Barackenbezirke vorgedrungen, um entlegene Handlungsorte und, dies besonders eifrig, dort vermutete Romanfiguren aufzuspüren. Dass Literatur zum Großteil auf reiner Fantasie basiert, schien man beim Lesen oft vergessen zu haben. Stattdessen versicherte man mir, es „stimme ja alles“ („Hat das irgendeiner Ihrer Kritiker eigentlich bemerkt?“) bzw. es „stimme ja gar nichts“, sei in Wirklichkeit ganz anders.

In der Tat hatte sich seit meinem letzten Besuch einiges in Santiago geändert, die Dachschweinhaltung hatte man verboten, die illegalen Verkaufsstände aufgelöst, das leere Kaufhaus geschlossen. Auch die „Romanfiguren“ waren nicht auf dem Stand von 2002 geblieben, Luisito hatte sich den Bart abrasiert, Papito sein Haus verkauft, Cuqui arbeitete nur mehr als Pizzabäcker im „Balcon del Tivolí“, wo’s jetzt, angrenzend an den Hof, in dem das Abendessen serviert wurde, ein Zimmer gab, das stundenweise vermietet und von den Einheimischen rege frequentiert wurde.

So war auch ich nach meiner Ankunft zunächst enttäuscht – die aktuelle Wirklichkeit reichte nicht an das heran, was ich vor Jahren hier wahrgenommen und zu literarischer Wirklichkeit zusammengefügt hatte. Anscheinend ist die Macht der Worte kein Deut geringer als die der Bilder; auch eine literarische Verarbeitung kann dem originalen Schauplatz für den Leser viel von seiner Aura rauben. Auch die Paleros nahmen das Buch am Ende auf eine Weise ernst, wie ich sie nie erwartet hätte. Nämlich dessen Umschlag und die ebenfalls auf Palo-Motiven basierenden Kapitel-Vignetten: Was im Verlag rein unter gestalterischen Aspekten diskutiert worden war, jetzt musste es sich derselben Wahrheitsfrage stellen, wie sie deutsche Leser an die Stadt und ihre Bewohner richteten – man macht sich hierzulande keine Vorstellung mehr davon, mit welcher Leidenschaft ein Stück Literatur rezipiert werden kann. Und das von Menschen, die das Buch nur auf ihre Weise zu lesen wissen, also vollständig am Text vorbei, dies freilich bis tief in die Nacht.

Die Unterschrift des Gottes Sarabanda, für den Uneingeweihten eine abstrakte Zeichnung einiger sich kreuzender Pfeile, die den Buchumschlag ziert? Sie stimme nicht!, behauptete eines Abends ein Palero namens Pichi, der uns zuvor ungebeten wahrgesagt hatte, mit starrem Auge an allem Irdischen vorbei, das ihm den Anblick seines Toten hätte verstellen können, der ihm – gleichfalls ungebeten – just zu Beginn des Abends erschienen war. Und dann gleich wie ein Wasserfall auf ihn einredete. Pichi hatte Mühe, seine Worte zu wiederholen, selbst von der Toilette aus ratterte er seine sehr präzisen Weissagungen herunter. Mit welcher Ehrfurcht er aber, als ihn sein Toter endlich in Ruhe ließ, das Buch in die Hand nahm – ach, das muss es auch einmal in Deutschland gegeben haben. Dann sein vernichtendes Urteil: Sie stimme nicht, die Unterschrift, sie sei unvollständig. Man einigte sich schließlich darauf, dass man Unterschriften von Palo-Göttern niemals komplett aufzeichne, damit kein Unberufener damit „arbeiten“ könne. Ich durfte aufatmen.

Schon die Romanrecherche war zum Großteil frei schwebende, durch keinerlei Fachliteratur abgesicherte Feldforschung gewesen. Immer wieder hatte ich mir dabei die Grundfrage gestellt, wie weit man in seiner teilnehmenden Beobachtung eigentlich gehen müsse, um am Ende ein ausreichend tragfähiges Fundament für eigne Fantasien zu erhalten. Schließlich hatte ich als Schriftsteller recherchiert, nicht als Ethnologe, ohne wissenschaftlichen Vollständigkeitsanspruch; andrerseits hatte ich bald gemerkt, dass ich die religiösen Gesänge, Gebete, Tänze tatsächlich erst dann verstand, auch den tiefen Schauer, den sie verströmen, wenn ich nicht nur reserviert daneben stand.

Nun jedoch, bei meiner Rückkehr nach Erscheinen des Romans, konnte ich mich nicht mehr in jener halb passiven Rolle durch die Rituale mogeln, die auch diesmal anstanden, nun galt ich, aufgrund des (ungelesenen) Buches, nicht mehr als Anfänger, sondern als Eingeweihter, nun hatte ich den Hahn wirklich selber zu ergreifen, dem der Palero das Messer durch den Hals schieben würde. Musste ich sein Zucken wirklich in den Händen spüren, bis er sich über den diversen Opferschalen ausgeblutet hatte, nur weil ich ein Buch geschrieben hatte? Aber wie hätte ich mich weigern können?

Und am Ende dann auch noch die Staatsgewalt. Drei Verhöre, davon zwei durch die Geheimpolizei, verdächtig war vor allem, dass ich niemals Fotos, stattdessen jede Menge Notizen gemacht hatte. Wer mir denn all die Informationen geliefert hätte? Ach – das war, das ist eine andere Geschichte.

Fotohinweis: MATTHIAS POLITYCKI, 50, ist Schriftsteller und Philosoph. Er ist Gründungsmitglied der Lübecker „Gruppe 05“. 2005 erschien „Herr der Hörner“ bei Hoffmann und Campe. FOTO: B. NIGGL RADLOFF