Weniger ist mehr!

Ein Gespenst geht um in Europa: die Angst vor dem Aussterben. In Deutschland wird die Debatte besonders heftig geführt. Warum eigentlich? Was wir an den Deutschen haben, merken wir vielleicht erst dann, wenn sie weniger sind

Können wir hoffen,dass ein deutscher WM-Sieg die demografische Entwicklung bessern kann?Der Sozialismus hat uns nicht erlöst. Das Ideal Europa überzeugt keine Frau von der Mutterschaft

Warum nicht hundert Jahre früher? So die unausweichliche, ironische Reaktion der Engländer auf Prognosen, dass es mit dem deutschen Volk bergab ginge und es möglicherweise sogar ganz verschwinden könnte. Warum haben sie uns so lange warten lassen? Und kriegen wir jetzt die wenigen Sachen, die wir an ihnen so schätzen: die BMWs, die Brauereien, die Elektrogeräte?

Doch dann fällt mir was ein: Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Phänomen des deutschen Nationalismus im zwanzigsten Jahrhundert, dieser außergewöhnlichen Freisetzung von Energie, die so viel Zerstörung verursacht hat, und der Orientierungslosigkeit dieser Tage? Warum haben die Deutschen aufgehört, sich zu vermehren? Wollen Sie keine blonden Kinder mehr, ist ihnen Bratwurst und Weißbier kein emotionales Engagement mehr wert? Sind sie nicht mehr stolz auf ihre herrlichen Buchläden, auf ihre Kunst, selbst mittelmäßige Mannschaften immer wieder ins WM-Finale zu bringen, auf ihren effizienten öffentlichen Nahverkehr und die exzellente Straßenreinigung?

Was auffällt, wenn man auf die Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts zurückblickt, ist die Bedeutung des Begriffs Gemeinschaft. War Gemeinschaft in den Jahrhunderten zuvor noch etwas Selbstverständliches, so geriet sie mit dem Aufkommen der Industrialisierung und des Individualismus unter Druck. Da immer mehr Menschen allein und mobil in freizügigeren, städtisch geprägten Strukturen lebten, entstand diese erhabene und schreckliche Sehnsucht nach Zusammengehörigkeit, der Wunsch, in einer Welt zu leben mit starken menschlichen Beziehungen und einer auf einem Gemeinschaftsgefühl basierenden kraftvollen Solidarität.

Doch an diesem Punkt gab es keine natürliche, prämoderne Hierarchie, die solche Beziehungen schaffen konnte. Gemeinschaft konnte nur noch eine Ansammlung von gleichen Individuen sein, die sich für eine gemeinsame Sache zusammenfanden, unsere eigene Sache. Einheit wurde nicht durch eine „natürliche Hierarchie“, sondern eine zweckgebundene Ausrichtung auf ein Ziel hergestellt: die Bewahrung und Weiterentwicklung unserer Kultur, unseres Erbes, unserer kollektiven Identität. Derartige Konzepte waren im Mittelalter undenkbar. Jetzt wurden sie von einer Regierung per Massenmedien verbreitet. Man redete von Blut, das einte, von heiligem Boden. Innerhalb der Nation waren alle gleich, aber die Nation als Ganzes war anderen überlegen. Das Verlangen nach Zusammengehörigkeit war so stark, dass die Menschen sich kaum darum kümmerten, hinter welcher Sache sie sich versammelten.

Jedes Land in Westeuropa ist sich der Schande unserer nationalistischen Vergangenheit bewusst. Gewaltige, kampfbereite Gemeinschaften standen sich gegenüber, die nur im Verlangen nach der gegenseitigen Zerstörung zu sich finden konnten. Da dieses Phänomen in Deutschland in seiner hässlichsten Form zum Ausdruck kam, empfinden die Deutschen diese Schande tiefer als andere. Und man hat die Deutschen ermuntert, für alle zu büßen. Nach dem Krieg war verständlicherweise ein Umschwenken ins andere Extrem zu verzeichnen. Der Wunsch nach Gemeinschaft war nicht kleiner geworden, aber jetzt mussten immer größere Gemeinschaften konstruiert werden, die sich nicht auf sich selbst beriefen und die Werte anderer ausschlossen – deutsche, französische, britische, katholische oder protestantische Werte. Diese Gemeinschaften beruhten auf Werten, die Schopenhauer negative Werte, negative Ideale genannt hat: Freiheit (das zu tun, was wir nicht kennen), Frieden und Nicht-Einmischung (ungeachtet der Gefahren), Emanzipation (egal, wovon und mit welchem Ergebnis), Gleichbehandlung (egal, wie groß die Unterschiede). Das alles war zweifellos richtig. Was sonst hätten die Europäer im Schutt von 1945 tun sollen? Im Grunde basierte die gesamte Nachkriegskultur auf einem einzigen verneinenden, durch und durch bewundernswerten Gedanken: So etwas darf nie wieder passieren.

So entstand die Europäische Gemeinschaft, der erste große Zusammenschluss von Menschen, der nicht auf Zuwachs und Verstärkung einer kollektiven Identität abzielte, sondern sich als eine Folge von kleinen Kapitulationen begriff: Jedes Land hängte seine Flagge etwas niedriger, und jedes Volk war darauf bedacht, den Wahn von einem separaten Schicksal zurückzudrängen.

Wir haben versucht, das Projekt mit Begeisterung anzupacken. Wir hatten ja wohl auch keine andere Wahl. Die Franzosen sehen darin die Stärkung sozialistischer Ideale. Die Engländer stellen es sich als eine Erweiterung der Ideologie vom freien Unternehmertum vor. Und die Deutschen haben vielleicht die Chance gesehen, dass sich ihre nationale Schande in einem großen, optimistischen und entschieden pazifistischen Superstaat in nichts auflösen würde, als finale Blütezeit der Aufklärung wie auch – merkwürdigerweise – als Vollendung einer geläuterten christlichen Welt. Inmitten der Aufregung um die Wiedervereinigung Deutschlands gewann das beruhigende Projekt zweifellos noch zusätzlich an Bedeutung. Der Tatsache, dass auf einer tiefer liegenden geistigen Ebene das Projekt Europa nicht zufriedenstellend verlief und oft mehr Zwist als Gemeinsamkeit produzierte, begegnete man mit immer ehrgeizigeren Idealen: der Einführung des Euro, der Osterweiterung, der Europäischen Verfassung. Ich lebe seit fünfundzwanzig Jahren in Italien. Auch die Italiener starren pausenlos voller Sorge auf ihre demografische Kurve. Die Zeitungen ergötzen sich an Voraussagen, wann die schnell wachsende Einwandererbevölkerung die Einheimischen überflügeln werde, wann die italienische Nation schließlich ganz verschwinden werde und sie die Mühen der Pizza- und Capuccinoherstellung anderen werde überlassen müssen.

Obwohl es in Italien nichts gibt, was dem Schamgefühl der Deutschen über ihre Vergangenheit gleichkäme, sind sie doch ebenso glühende Anhänger der Europäischen Gemeinschaft, die sie sowohl als etwas betrachten, das ihnen und ihren Gewohnheiten Schutz bietet, wie als etwas, in dem sie aufgehen können. Im Moment ändert sich diese Einstellung rapide, Italien empfindet sich wie Deutschland als ein Land ohne Orientierung: nach einem völlig inhaltsleeren Wahlkampf und einer Wahl, die keinen klaren Sieger hervorbrachte, mit zwei politischen Lagern, denen jegliche Vision oder Inspiration abgeht. Was ist zu tun?

Man könnte sagen, dass die Europäer dann am besten funktionieren, wenn man die Langeweile und die Kompromisse des Alltagsgeschäfts als etwas Vorläufiges begreift, das eingebettet ist in ein Langzeitengagement für irgendein in der Zukunft liegendes Ideal: Demokratie, Sozialismus, die Einheit Europas, das Königreich Gottes. Es fällt leichter, die Freuden und Annehmlichkeiten einer hedonistischen Konsumgesellschaft zu genießen, wenn man gleichzeitig davon überzeugt ist, dass man selbst – wie auch die Gesellschaft als Ganzes – im Einklang steht mit verantwortungsvollen und idealistischen politischen Entwicklungen.

Dumm nur, dass es immer schwieriger wird, diese bequeme Strategie durchzuhalten. Idealismus – wohin man auch blickt – interessiert seit über zehn Jahren niemanden mehr. Wir können uns selbst einfach nicht mehr davon überzeugen, dass da tatsächlich an einem verantwortungsvollen, fortschrittlichen Projekt gearbeitet wird. Der Sozialismus hat uns nicht erlöst; das freie Unternehmertum beschwört nur das Schreckgespenst von Importfluten aus China herauf; und das Ideal Europa überzeugt keine junge Frau von der Mutterschaft. Und das vielleicht Entscheidendste: Wir haben jegliches Vertrauen in eine Medienlandschaft verloren, die doch eigentlich unsere zersplitterte Gesellschaft zusammenhalten will. Die seichte Phrasendrescherei, die Endlosschleife aus Melodram und Beruhigungspille ist abstoßend.

Bleibt noch das Königreich Gottes … In den vergangenen Monaten und nach den orgiastischen Gefühlsausbrüchen rund um den Tod von Johannes Paul II. hat der religiöse Konservatismus Konjunktur, besonders unter jungen Menschen. Wenn man an nichts mehr glauben kann oder nichts mehr da ist, um das herum sich eine Gemeinschaft bilden kann, dann kehre zurück zu Gott.

Allerdings ist der christliche Glaube in Westeuropa eine ziemlich armselige und kraftlose Zuflucht, verglichen mit dem starken und stolzen Islam. Sicher, es gibt eine christliche Liturgie, und für die krankhaft Ängstlichen auch einen Moralkodex, aber die alles durchdringende Leidenschaft fehlt. Tief im Innern wissen wir, jeder steht für sich allein. Wir sind nicht mehr Teil einer „religiösen“ Gemeinschaft, die uns Mut macht und zur Mutterschaft ermuntert.

Kürzlich ergab eine Umfrage in Italien, dass Italiener fast auf allen Gebieten pessimistisch in die Zukunft blicken, während Einwanderer gespannt und hoffnungsfroh nach vorn schauen. Sie bilden eine Gemeinschaft. Oder viele Gemeinschaften. Sie wollen es schaffen, ihre gemeinsame Identität ist von Kampfbereitschaft geprägt. Sie haben in tiefster Armut angefangen, ihre wirtschaftlichen Verhältnisse bessern sich. Und ihr religiöser Glaube wird durch den Kontakt mit dem dekadenten Westen gestärkt. Sie setzen freudig Kinder in die Welt, damit die ihre Zuversicht und ihren Glauben teilen können.

Wir können ihnen weder nacheifern noch von ihnen lernen. Unseren Individualismus und Skeptizismus kann man nicht einfach wieder zurückdrehen. Manchmal habe ich den Eindruck, dass die einzigen begeisterungsfähigen, positiven Gemeinschaften, die wir uns noch zu bilden trauen, die rund um Fußballmannschaften sind. Können wir hoffen (oder fürchten), dass ein deutscher WM-Sieg die demografische Entwicklung stoppen kann?

Oder, um mit einer ernsten Bemerkung zu schließen, könnte es sein, dass der militante Islam oder die chinesischen Importe uns retten werden? Mit dem Rücken zur Wand werden wir erkennen, dass unsere Freiheiten es tatsächlich wert sind, sich mit heißem Herzen Gedanken darüber zu machen. Wenn wir erst mal arbeitslos und ärmer sind, dann werden wir gezwungen sein, auf neue Art und Weise zusammenzuleben. Der Fehler aller grobschlächtigen demografischen Vorhersagen ist der, dass wir nicht wissen, wie die Menschen auf den Ernstfall reagieren werden. Das Leben wird sich ziemlich verändern, wenn es nur noch sechzig Millionen Deutsche gibt. Oder zwanzig Millio- nen …

Zweifellos wird der Zeitpunkt kommen, dass einem Germanness plötzlich wie eine höchst wertvolle Qualität vorkommen wird. Sogar für Brits.

Übersetzung: Wolfgang Müller