Weg mit der Stellvertreterin

Eine ganze Region wird Kulturhauptstadt? Erst muss der Name Essen weg, dann eine Kulturdebatte her

Ein paar schlaflose Nächte ist es her, seit dem die Ruhrpott-Bewohner nicht nur als Papst, sondern auch als europäische Kulturmenschen gelten. Endlich wurde schwarz auf weiß anerkannt, dass der Himmel über dem größten Multikulti-Schmelztiegel der Nation nicht nur wieder blau, sondern auch strahlend ist.

Ermöglicht haben den werbewirksamen Etikettenschwindel – viele Städte sind keine Kulturhauptstadt – erst einmal die großen Sponsoren wie E.ON Ruhrgas, RAG, RWE und West LB, die natürlich wirtschaftliche Eigeninteressen verfolgen und die Unterstützung der Kulturhauptstadtbewerbung auch als politische Landschaftspflege sehen.

Dann sind da 53 Städte im Ruhrgebiet und die NRW-Landesregierung. Sie haben ein glühendes Interesse an PR, wollen attraktiv wirken – und in erster Linie natürlich Besucher in Hotels und Kongresszentren locken. „Kultur als Motor des Strukturwandels“ nutzt dem Kapitalismus, ist aber der Tod von Kunst, wenn sie sich gegen Bezahlung unter Prämissen ducken muss, die nicht artgerecht sind. Dabei spielt es keine Rolle, ob die heimischen Künstler aller Sparten eh nur marginal am Prozess partizipieren. Unter allen Protagonisten wird in den nächsten Jahren ein Hauen und Stechen stattfinden, denn die Euros können nicht fünf Jahre über die Region regnen.

Was müsste also passieren, damit die Trophäe Europäische Kulturhauptstadt 2010 überhaupt Bedeutung erlangt? Als Erstes: weg mit dem Namen der Stadt Essen. Die Stellvertreterin hat ihre Schuldigkeit getan. Was jetzt zählt, ist der regionale Gedanke. Das muss nicht nur blitzartig Auswirkungen auf regionale Struktur-Planung oder auf die Medien haben, sondern müsste als Vision auch Niederschlag in einer gemeinsamen zeitgenössischen und vernetzten Großstadt-Architektur finden. Dazu sollte die kulturelle Inzucht beendet werden. Das gilt für Entscheidungsträger in den Ministerien genauso wie für die freie Szene. Wie man das anders machen kann? Bestes Beispiel dafür ist die neue Intendanz von Tom Stromberg und Matthias von Hartz als Intendanten der Impulse, dem NRW-Festival der Freien Theater im deutschsprachigen Raum. Aus so einem Schnitt entstehen vielleicht Denkanstöße.

Von der ehemaligen NRW-Kulturministerin Ilse Brusis stammt das Zitat: Das Licht nicht unter den Scheffel stellen. Da liegt der wichtigste Knackpunkt. Wenn wir der sowieso langsam verschwindenden Kunst überhaupt noch eine Chance geben wollen, dann kann die nur in der Region selbst liegen und auch aus ihr kommen. Die kulturellen Leuchttürme und die bereits gehandelten (natürlich) großen Namen ziehen zwar formal jede Menge Besucher an, aber sie produzieren trotz hoher Kosten keine Nachhaltigkeit. Ohne die gibt es aber keine Prozesse, die langfristig gesellschaftspolitische Auswirkungen, insbesondere auf die Jugend und die unverzichtbaren Migranten-Kulturen haben und eine Evolution im Umgang mit Kunst in Gang setzen können. Denn die größte Chance die die Region erbeutet hat, ist die der inhaltliche Auseinandersetzung mit Kultur selbst – ohne Strukturwandel. PETER ORTMANN