Im Hexen-Katzen-Zauberreich

NOUVELLE VAGUE Jacques Rivettes Filme handeln von hypnotischer Fesselung, dem Wunsch nach Befreiung und manchmal auch von der Liebe. Das Arsenal widmet dem unergründlichen Regisseur eine Retrospektive

Katzen sind anschmiegsam und unergründlich, dem Mond verschwistert

VON HELMUT MERKER

„Phantom Ladies Over Paris“, Duelle zwischen Sonnen- und Mondgöttin, ein Taubstummer, der plötzlich redet, und eine Jungfrau, die mit Gott spricht; eine Viererbande auf Gespensterjagd, ein ungekanntes Meisterwerk, das niemand zu Gesicht bekommt, Weltverschwörungen, die sich als Hirngespinst herausstellen: Der erfindungsreiche Schöpfer und zärtliche Dompteur all dieser Figuren auf verschlungenen Wegen, ein Geisterseher und Mythenbeschwörer, ein Jongleur mit Schauplätzen, Zeitebenen, Film-, Theater- und Märchenelementen ist der Regisseur Jacques Rivette.

„In unserer Bande von Fanatikern war er der fanatischste“, schrieb François Truffaut. Neben dem politischen Kämpfer Godard, dem bürgerlichen Giftmischer Chabrol und dem klassischen Erneuerer Truffaut ist Rivette der unergründlichste. Und der mit den größten Schwierigkeiten bei der Produktion, den geringsten Erfolgen an der Kasse, aber auch mit der intensivsten Liebe und Ehrfurcht unter seinen Anhängern.

Sein Kurzfilm „Le Coup de Berger“ (1956) gilt als Initialzündung für die Nouvelle Vague, sein erster Kinofilm, „Paris nous appartient“ (1958–61), wurde, nach den Filmen von Truffaut, Godard und Chabrol, deren erster Misserfolg.

„Le Coup de Berger“ enthält schon viele der Motive, die sein ganzes Werk bestimmen: ein magisches Paris mit Verschwörungen und Geheimbünden, Kunst und okkulten Mysterien, mit einem Theaterregisseur, der in seiner Shakespeare-Inszenierung des „Perikles“ aus unendlich vielen Splittern ein Ganzes schaffen will. „Paris nous appartient“ wird zu einem verwirrenden Labyrinth mit dem Motto: „Paris gehört niemandem.“

Rivettes Universum umfasst das antike Theater und keltische Legenden, das Mittelalter und die nachnapoleonische Restauration und immer wieder die Stadt Paris der Gegenwart, aber einer Gegenwart voller Rätsel und Geheimnisse.

Das parallele Leben

In den 1970er Jahren erfindet er Geschichten aus dem „parallelen Leben“ und schickt Céline und Julie auf Geisterjagd, und die beginnt so: Ein Insert mit dem Satz „Le plus souvent, ça commençait comme ça“ stimmt uns ein wie etwa „Es war einmal“, dann liest auf einer Parkbank eine junge Frau in einem Handbuch der Magie, zwei Zwischenschnitte zeigen eine Katze, die auf der Bank daneben spielt, beim nächsten Schnitt taucht an derselben Stelle eine exzentrische Frauengestalt auf.

Wie Alice vom weißen Kaninchen in das Wunderland hinter den Spiegel, so werden wir hier in das Hexen-Katzen-Zauberreich geleitet. Die Katze wird die beiden Frauen mit bunten Bonbons in eine fantastische Henry-James-Geschichte einschleusen, wo sie ein Kind aus der bösen Schattenwelt befreien.

Katzen sind anschmiegsam und unergründlich, mit großen dunklen Augen, dem Mond verschwistert, der weiblichen Sphäre und den nächtlichen Mysterien, unberechenbare Wesen, die sich dem Zugriff entziehen. Ihnen entsprechen Rivettes Schauspielerinnen Juliet Berto, Dominique Labourier, Bulle Ogier, Marie-France Pisier, die nicht nur Darstellerinnen in ihren Rollen sind, sondern diese improvisierend erst vor der Kamera entwickeln.

Später kommen Sandrine Bonnaire, Emmanuelle Béart, Maria Schneider, Jane Birkin und Jeanne Balibar dazu, nur Leslie Caron hat Pech gehabt. Mit ihr und Albert Finney begann Rivette 1976 den dritten Film seiner Tetralogie „Töchter des Feuers“: Nach dem „Thriller“ („Duelle“) und dem „Western“ („Noroît“) ging es um die Liebesgeschichte „Histoire de Marie et Julien“, aber am dritten Drehtag erschien er nicht mehr und war für zwei Jahre ganz abgetaucht …

Julien erwacht

Fast 30 Jahre später realisierte er das Projekt dann doch, das mit einer mysteriösen Begegnung beginnt: Ein Mann erwacht auf einer Parkbank, eine Frau erscheint, sie haben einander ein Jahr lang nicht gesehen. Das Wort „Erlösung“ fällt, plötzlich wird ein Messer gezückt, beides wird noch ein große Rolle spielen; dann beginnt der Film noch einmal, nachts im Café, wieder ist Julien eingenickt und wacht auf wie aus einem verstörenden Traum – auf der Straße wird er Marie wieder begegnen, und ihr erzählen, dass er von ihr geträumt hat.

Wo aber beginnt der Traum, wo endet die Wirklichkeit? Nie sind die beiden Sphären so einfach voneinander geschieden, immer wieder spiegelt sich eine Parallelwelt in der nächsten: ein Vexierspiel, das nur ein Wesen zu durchschauen scheint, Juliens Katze namens Nevermore.

Rivettes Filme handeln von Zauberbann, hypnotischer Fesselung und dem Wunsch nach Befreiung. Hier erzählt er erstmals ausdrücklich von der Erlösung durch die Körperlichkeit der Liebe. Nacktheit und Körperlichkeit bestimmen auch ein anderes Werk, das einen Ehrenplatz in der Filmgeschichte einnimmt, „La belle noiseuse“. Sie reißen den alternden Maler aus seiner Lethargie, entfachen seine Leidenschaft für die Kunst neu, und natürlich fehlt auch hier die Katze nicht, sie schleicht durch seine Träume und weckt ihn aus dem Schlaf.

Michel Piccoli spielt den wundervollen Querulanten in einer Balance zwischen künstlerischer Strenge und liebenswerter Lässigkeit, zwischen verschlossenem Schweigen und zornigen Ausbrüchen. Der Maler und sein Modell und ein leeres Blatt Papier, und wenn er dann beginnt, ist es wie der Schöpfungsakt am ersten Tag. Wieder inspiriert von Balzac wird aus der „Geschichte der Dreizehn“ der 13-Stunden-Film „Out One – Noli me tangere“ (genau genommen sind es 12 Stunden und 53 Minuten), ein Opus magnum, das legendäre glorreiche „Serial“-Verschwörungskino im Paris des Jahres 1970, das Jahrzehnte nach seiner Entstehung wider Erwarten doch noch im Kino gezeigt wird.

In all seinen schönen rätselhaften Filmen über Liebe und Tod, Leben und Traum kommt es Rivette nicht darauf an, diese Mysterien zu erklären, sondern man soll sie durchleiden und auskosten, daher zitiert er gerne den Satz von Cocteau: „Da wir alle diese Geheimnisse nicht begreifen können, lasst uns so tun, als hätten wir sie erschaffen.“

■ Jacques-Rivette-Retrospektive im Arsenal, 2. bis 31. Oktober 2013, am 2. Oktober Einführung von Andreas Kilb