Heilsame Worte

Ilona Durigo leitet die historische Reichenberger-Apotheke in Kreuzberg. Deren Markenzeichen: Die Mitarbeiterinnen beherrschen sechs Sprachen

Im Kiez rund um die Reichenberger Straße ist ihre Apotheke fast eine Art Sozialstation

von KARIN FLOTHMANN

Es tropft auch schon mal Blut auf den Tresen der Apotheke. Etwa als der junge Mann hereinkommt und seine Hand in die Höhe hält. Er hat sich mit einem Brotmesser verletzt, nun klafft ein tiefer Schnitt in seiner Hand. Die Apothekerin bleibt gelassen. Sie schaut sich die Wunde an und verbindet sie. Der junge Mann bedankt sich überschwänglich – auf Arabisch: „Schukran gezilan, ma’a salama!“

Ilona Durigo spricht die Sprache nahezu fließend. Grund dafür ist eine inzwischen verflossene Liebe zu einem Sudanesen. Genauso fließend beherrscht die Kreuzberger Apothekerin Spanisch, Englisch und Französisch – und natürlich Deutsch. Türkisch kann eine Angestellte.

Vielsprachigkeit ist das Markenzeichen der Apotheke in der Reichenberger Straße Ecke Liegnitzer. „Hier leben viele Latinos, arabische und türkische Familien. Diese Buntheit gefällt mir“, erklärt Ilona Durigo. Wenn die kleine, eher zierliche Frau gefragt wird, was ihr am Apothekerinnendasein am meisten Spaß macht, antwortet sie: „Der Kontakt mit den unterschiedlichsten Menschen und die Beratung von Alt und Jung.“ Im Kiez ist ihre Apotheke fast eine Art Sozialstation.

Ein Mädchen betritt schniefend den Laden, gefolgt von zwei älteren Frauen, die sich leise auf Türkisch unterhalten. Einmal Nasentropfen und Papiertaschentücher, einmal ein Kopfschmerzmittel. „Inzwischen kommen die Menschen häufig erst mal zu uns, bevor sie zum Arzt gehen“, berichtet die Apothekerin. Das habe mit der jüngsten Gesundheitsreform zu tun. Denn so sparten sie die Praxisgebühr.

Ein Vater und ein weinendes Kind sind die nächsten Kunden, zusammen mit einem riesigen gelben Pokémon-Ungeheuer, dessen Bauch aufgeplatzt ist. „Haben Sie zufällig eine Nähnadel und Garn?“ Ilona Durigo hat auch das – und sie verleiht die Nadel. Wenig später ist das Pokémon wieder gesund, und die Nadel wird zusammen mit einer Praline zurückgebracht. Das Kind lacht zufrieden. Ilona Durigo lacht mit. „Solche kleinen Episoden passieren hier oft“, sagt sie. Ihre Augen strahlen.

Tagsüber herrscht von Zeit zu Zeit Gedränge vor dem alten Tresen der Apotheke. Nachts, wenn die Apotheke für den Notdienst von 18.30 Uhr bis zum nächsten Morgen um 9 Uhr besetzt ist, ist es ruhiger. Dann macht Ilona Durigo in einem Hinterzimmer die Buchführung. Der Raum ist voller alter Fotos vom Kiez. An der Wand hängt eine alte Jugendstilreklame für Kamillenextrakt. Und auf dem kleinen Tisch in der Mitte des Raums steht noch der Teller vom Abendbrot. Die Apothekerin streicht sich die roten Haare aus dem Gesicht und beginnt zu erzählen.

Die kulturelle Vielfalt des Viertels hat die 54-Jährige vor zwölf Jahren in den Kiez gezogen. Damals übernahm sie die denkmalgeschützte Apotheke. Niemand wollte die antiken Apothekenschränke mit ihren Schubladen und die Regale mit gedrechselten Streben. Das war nicht modern genug. Doch Ilona Durigo verliebte sich in die alten Gläser und Flaschen, in die Porzellangefäße und Mörser. In ihrer Freizeit recherchierte sie die Geschichte ihrer Gründerzeitapotheke.

Eröffnet wurde die mit dem gleichen Mobiliar vor mehr als 115 Jahren im Jahr 1889. Damals existierten in der Liegnitzer Straße noch in fast jedem Haus Ladenlokale: vier Tabakgeschäfte, diverse Lebensmittelläden, ein Seifenladen, mehrere Bäckereien, Kohlenhändler, Frisöre, Schuster und sogar gleich zwei Leihbibliotheken. Außerdem gab es einen Kuhstall. Und da war die Apotheke an der Ecke zur Reichenberger. Heute ist sie – neben einem Kiosk – das einzige Ladenlokal in der Straße.

Die Pharmazie war für Ilona Durigo kein Traumberuf. „Zur Apotheke bin ich eher zufällig gekommen“, sagt sie. Als gelernte Versicherungskauffrau zog sie im Jahr 1970 von Bielefeld nach Berlin. Hier holte sie das Abitur nach. Hier begann sie zu reisen. Bei einem Urlaub im Sudan lernte sie schließlich ihren späteren Ehemann kennen. Nach dem Abitur bekam sie eine Tochter und sprach leidlich gut Arabisch. Zunächst begann sie damals Arabistik und Völkerkunde zu studieren. Doch dann überlegte sie es sich noch mal anders: „Es sollte etwas Medizinisches sein“, denn sie wollte im Ausland helfen.

Als das Pharmaziestudium geschafft war, endete auch die Ehe. Als Alleinerziehende arbeitete Ilona Durigo mehr als zehn Jahre lang in unterschiedlichen Apotheken, bis sie als Urlaubsvertretung auf die Reichenberger Apotheke stieß. Damals war der Verkaufsraum noch mit – ziemlich hässlichen – Neonröhren bestückt. Ilona Durigo besorgte alte Leuchter und gab der Apotheke ein neues Profil. Heute führt die Apothekerin neben den üblichen Medikamenten vor allem Heilmittel aus der Natur: Mehr als 100 verschiedene Heilkräuter finden sich in Schubladen und Dosen. Chinesische Kräuter, ätherische Öle und homöopathische Arzneimittel ergänzen das Angebot.

Gegen 21 Uhr klingelt es. Ilona Durigo geht zur Tür und öffnet das kleine Notdienstfenster. Draußen steht ein junger Mann und versucht aufgeregt in gebrochenem Deutsch seine Notlage zu schildern. Ilona Durigo fragt auf Spanisch nach – offenbar die Muttersprache des jungen Kunden. Der erklärt ihr mit schnellen Worten: Sein Hund habe erbrochen, fresse nicht mehr und habe starken Durchfall. Auch für solche Fälle ist Ilona Durigo gewappnet. Sie gibt dem Mann Kohletabletten mit.