Ein schneller Gruß nach Hawaii

REINICKENDORF Für Funker sind die Bedingungen im Märkischen Viertel bestens. So kommunizieren sie mit der Welt – und bleiben in ihrem Kiez eher unter sich

■ Gebiet: Der Bezirk im Nordwesten Berlins hat eine Gesamtfläche von 89,45 Quadratkilometern, die zu 22 Prozent mit Wald und 8,3 Prozent mit Wasser bedeckt sind. Er wurde nach dem gleichnamigen Ortsteil im Südwesten des Bezirks benannt.

■ Geschichte: 1230 gründete der niedersächsische Bauer Reinhardt ein Dorf, das Reinhardts Dorf, auf plattdeutsch Renekentorp, genannt wurde, woraus schließlich Reinickendorf wurde. 1920 wurde der Bezirk aus den ehemaligen Dörfern Reinickendorf, Wittenau, Tegel, Heiligensee, Hermsdorf und Lübars gebildet.

■ Bevölkerung: Mit rund 243.000 Einwohnern ist Reinickendorf nach Spandau und Treptow-Köpenick der Berliner Bezirk, in dem die wenigsten Menschen leben. Der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund lag 2012 bei 25,8 Prozent. Das Durchschnittsalter der Bevölkerung beträgt 45,2 Jahre.

■ Wohnen: Die Wohngebiete sind sehr heterogen. Hier liegen die Großbausiedlungen Weiße Stadt und das Märkische Viertel. In Letzterem ist der Quadratmeter mit 5,43 Euro recht günstig. In den restlichen Ortsteilen stehen hauptsächlich Einzelhäuser, in Hermsdorf und Frohnau auch viele Villen. Bei Mieten in Frohnau kostet der Quadratmeter durchschnittlich 7,55 Euro.

VON MAJA BECKERS

Im neunten Stock in einem Wohnblock im Märkischen Viertel beobachtet Bernd Fleger die Welt. Zahlen- und Buchstabenkombinationen flimmern über seinen Bildschirm und zeigen an, wer gerade wo funkt. NH0O – „Das ist jemand aus Hawaii!“, sagt Fleger. Er richtet per Steuerung die Antenne auf dem Dach aus, dreht auf die angezeigte Frequenz und ruft auf Englisch: „CQ“, das heißt: allgemeiner Anruf. „Hello“ knarzt es von der anderen Seite. „How are you? How is the weather?“ Das Gespräch dauert nur wenige Minuten. Fleger gibt dem Funker aus Hawaii auch sein Rufzeichen durch, DO7JVB, und beendet das Gespräch mit einem englischen „73“, das heißt so viel wie „alles Gute“ und ist die übliche Verabschiedung. Ein „Kuss“, 88, oder ein „verzieh dich“, 99, sagt man unter Funkern doch eher selten.

Für das Hobby mit seinen ganz eigenen Codes herrschen in der Großwohnsiedlung Märkisches Viertel in Reinickendorf ideale Bedingungen. „Die hohen Häuser vor allem“, sagt Fleger. „Je höher die Antenne steht, desto besser.“ Und früher erlaubte die Gesobau, der hier die meisten Gebäude gehören, dass sie ihre Antennen auf die Dächer schrauben. Inzwischen ist das verboten, die Antennen aber, die bereits auf den Dächern stehen, dürfen bleiben.

„Deshalb ist das Märkeviertel ein Funkerparadies“, sagt auch Herbert Frühling, der Vorsitzende des Amateurfunk Ortsverbands D13 Märkisches Viertel. Über ihre eigene Klubfrequenz, 145,275 UKW, funken sie täglich zwischen den Wohnblocks hin und her. „Zum Telefon greife ich nur, wenn derjenige sein Funkgerät gerade ausgeschaltet hat“, sagt Frühling. Obwohl es in Berlin mehrere Ortsverbände für Amateurfunk gibt, hat das rege Treiben auf ihrer Klubfrequenz dem Märkischen Viertel sogar Vereinsmitglieder beschert, die gar nicht aus dem Viertel kommen. „Weil bei uns so viel los ist“, sagt Frühling.

Zwei Mal die Woche treffen sich die Funker zum Stammtisch, außerdem gibt es Wettbewerbe und sie vergeben sogenannte Diplome für besondere Leistung. Bis 2004 unterhielten sie sogar den kleinsten Fernsehsender Deutschlands: ein Amateurfunk-Kiezfernsehen für das Märkische Viertel. „Aber das war noch analoges Fernsehen. Mit dem Digitalfernsehen ging das nicht mehr“, erklärt Joachim Hanke, der den Sender damals aufgebaut hatte.

Sie alle sind lange dabei und wohnen auch im Märkischen Viertel bereits seit rund 30 Jahren. Herbert Frühling ist 71, trägt Bart und stellt sich gerne vor mit: „Ich bin der Frühling aus Berlin.“ Er hat 20 Jahre als Fußbodenleger gearbeitet, bis die Knie kaputt waren, und dann Telefonanlagen eingerichtet. Früh fing er an, sich für „die Welt da draußen“ zu interessieren. Mit Schallplatten lernte er Englisch. „Mach doch mal die Zirkussprache aus“, fuhr ihn der Vater damals an. Aber Frühling ließ sich nicht beirren und ist heute stolz darauf, mit Funkamateuren aus allen Ländern sprechen zu können.

Einst die Weltbürger

Als die Hobbyfunker im Märkischen Viertel anfingen, waren sie die Weltbürger in ihrem Kiez, die einzigen, die mit Grönland oder den Bahamas gesprochen hatten. Heute, wo die Welt längst zum globalen Dorf geworden ist, wirken sie wie aus der Zeit gefallen. Der Kontakt allein ist nun nicht mehr das Besondere, das geht mit Handy und Internet einfacher. Es ist die Technik, die Einfachheit der Mittel. Das „einfache Stück Draht, nur so dick wie dieser Kaffeelöffel“, wie Fleger sagt. Computer nutzen sie nur zur Unterstützung der Funkanlage, im Internet sind nur ihre Rufzeichen zu finden, damit sie angefunkt werden können.

Dieses Rufzeichen ist das persönliche Erkennungszeichen und Funker sagen es gerne gleich zu ihrem Namen dazu. Man erhält es mit einer Lizenz, die von der Bundesnetzagentur vergeben wird. Funkamateur Fleger ist 57 und hat früher auf dem Großmarkt gearbeitet, „bis der Rücken nicht mehr mitgemacht hat“, erzählt er.

Die anderen sagen, er sei „der Verrückteste“ im Verein. Einer, der den ganzen Tag vor dem Funkgerät sitzt und darauf lauert, dass jemand von einem interessanten Ort aus funkt. Je weiter weg, je unbelebter, desto besser. Zuweilen gibt es richtige Expeditionen, bei denen für zwei Wochen eine Station an einem spektakulären, meist unbewohnten Ort aufgebaut wird. „Da stehen die Leute in der Leitung Schlange für einen kurzen bestätigten Kontakt“, sagt Fleger. Denn nach jedem Kontakt schicken sich Funker Postkarten mit ihrem Rufzeichen, der Position und einem Wert darüber, wie gut man sich hören konnte. Stolz zeigt Fleger seinen Ordner mit diesen sogenannten QSL-Karten. Außer Karten von Expeditionen sind auch solche besonderen Schätze, für die er das Signal auf den langen Weg, das heißt die umgekehrte Richtung über die Erde, geschickt hat. Außerdem Karten aus China, wo die Politik es den Funkern schwer macht. Auch die von Funkerinnen sind etwas Besonderes, denn es gibt nur sehr wenige Funkamateurinnen.

Manchmal, wenn nicht so viel Andrang in der Leitung und man selbst in Redelaune ist, entstehen auch Freundschaften. Ein 89-jähriger Japaner, mit dem Fleger seit einigen Jahren funkt, sagt immer, er solle ihn doch mal besuchen, und ein Australier hat ihm mal einen Bumerang geschickt, den er sich gewünscht hatte.

Schmuggeltrudes Kippen

Am Samstagmorgen treffen sich die Funkamateure in einer Raucherkneipe zum Stammtisch. Die Kaffeetassen stehen auf Bierdeckeln, die Kaffesahne-Päckchen stapeln sich in einem Glas auf dem Tisch. Sie rauchen Zigaretten, die „Schmuggeltrude“ aus Polen mitgebracht hat und necken ein Vereinsmitglied, das sein Funkgerät immer nur benutze, um mit dem Sohn, einem Lkw-Fahrer, zu kommunizieren.

Immer wieder schauen sie einfach auf den Marktplatz hinaus, die Mitte des Märkischen Viertels. Fast ihr ganzes Leben spielt sich hier ab. Einkaufen, Ausgehen, Arztbesuche. So war die Konstruktion dieser Satellitenstadt auch gedacht. Später hat sich das Viertel jedoch zu einem Problembezirk entwickelt und der Rapper Sido verfestigte mit dem Song über seinen „Block“ das Bild vom Märkischen Viertel als Ghetto.

Zuletzt aber gab es auch Hinweise, dass es nun wieder bergauf gehe. Die Gesobau lässt 15.000 Wohnungen komplett sanieren, das Projekt Stadtumbau West gestaltet öffentlichen Raum um. Laut Gesobau-Sprecherin Kirsten Huthmann zeigen die Anstrengungen Wirkung: „Wir haben jetzt wieder ein gemischteres Klientel, so wie es am Anfang hier der Fall war.“ Die Kriminalitätsraten sind niedrig, es ziehen mehr Familien her.

Andererseits hält sich das Ghetto-Image hartnäckig, einige Sanierungen wurden von Jugendlichen wieder zerstört, mancherorts funktioniert das mit dem Abfall nicht.

Was denn nun? Entwicklung oder Stagnation? Beides irgendwie, es ist ein Tauziehen. „Wo lang?“ fragte ein vor einem halben Jahr in den Medien diskutierter Dokumentarfilm über das Viertel. Er fand keine eindeutige Antwort.

Die Antwort wird oft bei den jüngeren, den zu- und wieder wegziehenden oder auch den sozial schwachen Bewohnern gesucht. Die große Gruppe der alteingesessenen „Märkevierteler“, die das Viertel auch prägt, wird eher selten gefragt. Sie machen ihr eigenes Ding. Während sie sich nach eigener Aussage untereinander fast alle kennen, sagt Frühling über Sido: „Wer ist das? Den Namen habe ich mal im Fernsehen gehört.“

Als Hobbyfunker sprechen sie mit aller Welt, Schneisen in ihrem Viertel überbrücken sie damit nicht. „Egal, was hier passiert“, sagt Frühling, „wir waren immer hier und werden hier sein bis wir sterben.“

Eine Sache, die sie hier hält, „egal, was passiert“, ist das Funken. „Solche guten Bedingungen werden wir nirgendwo sonst finden“, sagt Fleger. Aber: der Nachwuchs bleibt aus. Das jüngste Clubmitglied ist 35 Jahre alt, und damit eine Ausnahme.

Der allgemeine Retro-Trend, hin zu Schallplatten, hin zum Basteln und weg von digital, hat das Funken noch nicht ergriffen.