QUÄLENDE BEZIEHUNGSDEBATTEN, KLEINKRIEGE MIT NACHBARN UND SZENEHOSCHIS, DIE VIELEN SEMINARPAPIERE: ALLES HATTE SEINEN SINN
: Die Erfindung der Akazienstraße

VON DIRK KNIPPHALS

Kürzlich wurde bei mir um die Ecke mal wieder ein Film gedreht. Eine verkehrsberuhigte Kreuzung wurde zur Kulisse umgebaut. Ein Café fand sich zum hippen Friseurladen umgestaltet. Das Café gegenüber wurde gelassen, wie es ist. In der Mitte der Kreuzung wurden ein Kiosk und ein Obststand aufgebaut. Fertig war ein kleines Ortszentrum. Typus: unsere kleine Stadt. Das stand dann eine Woche so herum.

Ich musste immer grinsen, wenn ich daran vorbeikam. Denn das Idyllische der Gegend, in der ich wohne, Schöneberg Nord, war damit einerseits auf den Punkt gebracht, gerade jetzt, wenn die Blätter fallen. Man fängt die letzten Sonnenstrahlen ein im Straßencafé. Man kauft Eierschecke in der unscheinbaren, aber preisgekrönten Bäckerei. Man stellt fest, dass diese Saison portugiesischer Rotwein angesagt ist. Ach, die schöne hedonistische Gelassenheit der Akazienstraße im Herbst!

Andererseits folgten die Ausstattungsleiter der Filmkulisse natürlich dem falschen Narrativ. Das urbane Leben stellen sie sich offenbar als eine modernisierte gute alte Zeit vor. Die Kulissen hatten jedenfalls etwas von Sauberkeit und Ordnung. Der pittoreske Obstverkäufer, die patente Friseurin: Alles und jeder an seinem Platz. Passt bestimmt gut zu diesen in deutschen TV-Produktionen typischen Scheinkonflikten, die sich dann immer plotpointgerecht kurz vor Schluss auflösen.

In Wirklichkeit aber ist das schöne urbane Leben hier in der Gegend natürlich nach ganz anderen Scripts entstanden. Es ist auch das Ergebnis heftiger sozialer Konflikte. Im Wahlkampf stand auf Seite eins der FAZ, als Vorwurf an die Grünen formuliert, „dass Kritik der Sexualität, Antibürgerlichkeit und der Anspruch, ein Schweinesystem überwinden zu wollen, nicht nur ideengeschichtlich zueinander gehören, sondern die Parteigeschichte überhaupt erst in Gang gesetzt haben, mithin Wurzelwerk sind, nicht faule Blätter“. Das lässt sich auch auf die Akazienstraße drehen. Denn fundamentale Kritik, sexuelle Befreiung, Antibürgerlichkeit und Kampf gegen das Schweinesystem – das alles ist auch Wurzelwerk des sozialen Kosmos dieser Straße mit seiner tief eingesenkten linksalternativen Hegemonie.

Ein solider Anteil von ehemaligen Steinewerfern und Marx-Exegeten, Männergruppenquatschern und Psychotanten, Künstlerdarstellern und Verbalradikalinskis, von Poonabesucherinnen und Stadtneurotikern bevölkert bis heute die Straße. Das sind nicht nur Veteranen von 68. Es sind vor allem auch Menschen, die in den frühen Achtzigern mit dabei waren, also in Punk-, Hausbesetzer-, Straßenschlachtzeiten. Damals sind die Grundlagen gelegt worden, um ein funktionierendes urbanes Leben sozusagen neu erfinden zu können.

An der Akazienstraße sieht man, was bei diesen gesellschaftlichen Kämpfen herausgekommen ist: Werte wurden in ihnen zuallererst geschaffen. Viele Menschen stellen sich heute Bürgerlichkeit als Backlash und Scheitern revolutionärer Hoffnungen vor. Tatsächlich lief es anders: In den Straßenschlachten wurden die Ansprüche auf ein gelingendes soziales Leben zuerst formuliert. Danach wurden sie in unendlich quälenden WG- und Beziehungsdiskussionen, in Kleinkriegen mit Nachbarn sowie Szenemitbewohnern und in vielen Seminarpapieren allmählich, na ja, vielleicht nicht gerade durchgesetzt – aber doch zumindest in Reichweite gerückt. Wie man selbstbestimmt leben, lieben und arbeiten kann, davon hatte man gerade in Deutschland bis in die achtziger Jahre hinein wenig Ahnung. Heute ist man wenigstens manchmal ein Stück weiter. Und die Kulissen stehen dann doch fremd in der Gegend herum.