Holocaust-Archiv wird endlich geöffnet

Justizministerin Zypries kündigt an, das Archiv des Internationalen Suchdiensts im hessischen Arolsen für die Forschung freizugeben. Datenschutz steht zurück. Bestände sollen digitalisiert und auch aus dem Ausland zugänglich werden

VON KLAUS HILLENBRAND

Jahrzehnte des Widerstands der Bundesrepublik haben ein Ende. Nach heftigen internationalen Protesten von Holocaust-Forschern und diplomatischen Verstimmungen mit den USA kündigte Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) am Dienstag in Washington die vollständige Öffnung einer der bedeutendsten Datensammlungen zur Zeitgeschichte an.

Das Archiv des Internationalen Suchdiensts im hessischen Bad Arolsen beherbergt auf 24 Kilometern Regallänge bis zu 50 Millionen Dokumente. Ein großer Teil davon wurde nach dem Krieg von den Alliierten aus befreiten Konzentrationslagern zur Verfügung gestellt. Insgesamt geht es um Daten von mehr als 17,5 Millionen Nazi-Opfern. Unter den Akten finden sich die Häftlingsdateien des KZ Dachau und der komplette Inhalt der Effektenkammer von Buchenwald. Ganz Genaues weiß man nicht – es gibt kein Bestandsverzeichnis.

Die Direktorin des Washingtoner Holocaust-Museums, Sara Bloomfield, begrüßte die Entscheidung Zypries’ als wichtigen Schritt, der die Forschung voranbringen werde. Der Holocaust-Forscher des Museums Paul Shapiro sagte, er erwarte aus den Dokumenten einen Einblick in den „Alltag der Deportationen, Konzentrationslager, Zwangsarbeit und Ermordungen“. Vielleicht ließen sich auch Hinweise auf bisher nicht entdeckte NS-Täter finden. Auch die jüdischen Gemeinden in den USA, die Jewish Claims Conference und deutsche Historiker begrüßten die überfällige Entscheidung.

Bis jetzt konnten nur Betroffene und Hinterbliebene das Arolsener Archiv nutzen. Forschern war dies ausdrücklich untersagt. Die Bundesregierung hatte entsprechende Forderungen immer wieder mit datenschutzrechtlichen Bedenken abgelehnt. So enthielten die „Häftlings-Personen-Karten“ aus KZs auch Informationen über Vorstrafen, Homosexualität, Krankheiten und ethnische Zugehörigkeit.

Der Suchdienst Arolsen ist eine Einrichtung des Roten Kreuzes, die nach dem Krieg zur Unterstützung überlebender NS-Opfer bei der Suche nach ihren Angehörigen gegründet wurde, und wird von Deutschland finanziert. Ein internationaler Ausschuss aus elf Staaten leitet das Archiv, konnte sich aber niemals auf eine Archivöffnung verständigen. So blieb es bis heute bei den restriktiven Zugangsmöglichkeiten von 1955. Lediglich 2 Prozent des Bestands durften eingesehen werden.

Charles Biedermann, vom Roten Kreuz eingesetzter Leiter des Suchdiensts, hat die Sperrung immer verteidigt: Schließlich wisse man nur in den wenigsten Fällen, ob in den Akten erfasste Personen tot oder noch am Leben seien, erklärte er zur Begründung. Doch selbst zugangsberechtigte Angehörige von NS-Opfern mussten bisweilen mehrere Jahre auf eine Antwort warten. Und andere Archive wie etwa das Koblenzer Bundesarchiv der Bundesrepublik Deutschland unterliegen zwar den Bestimmungen des Datenschutzes, sind Forschern aber prinzipiell geöffnet. Schließlich gehörten die Opfer und ihre Angehörigen zu den vehementesten Befürwortern einer Öffnung des Geheimarchivs in Arolsen.

Mit der nun gefundenen Zustimmung der Bundesregierung soll das Archiv in Arolsen schnellstmöglich für die Geschichtswissenschaft zugänglich werden. Dazu sollen am 16. Mai die entsprechenden Beschlüsse bei einer Tagung des Internationalen Ausschusses gefasst werden. Vorgesehen ist, das Datenmaterial digitalisiert in allen elf Gründungsländern des Archivs zur Verfügung zu stellen. Bisher sind nach Auskunft aus Arolsen 56 Prozent der Bestände digitalisiert. Bis Ende 2007 will man damit fertig sein.

Dann können Interessierte direkt in Italien oder den USA Einblick in die Arolsener Bestände nehmen. Der bundesdeutsche Datenschutz aber, der so lange als Vehikel zur Ablehnung unerwünschter Nachfragen funktioniert hat, hat dort überhaupt keine Gültigkeit.