Einklemmen und feststecken

Von Rechenunterricht, Bushaltestellen und unangenehmen Bewerbungsgesprächen

Der Busfahrer sollte nicht merken, dass ich festsaß, es war mir peinlich

Meine früheste Erinnerung an Eingeklemmtsein oder Feststecken reicht zurück in meine Grundschulzeit. Aus purer Neugier probierte ich während einer Rechenstunde aus, ob wohl mein Kopf in den Zwischenraum zwischen der Sitzfläche und der Rückenlehne des winzigen Stühlchens passte. Hinein ging mein Kopf ohne Probleme, aber aus irgendwelchen Gründen konnte ich ihn nicht mehr zurück ziehen – er hatte sich verkantet.

Da steckte ich also fest, unbequem auf dem Boden kniend, den Kopf verrenkt im Stuhl eingeklemmt und schrie Zeter und Mordio, heulte und jammerte, und meine wachsende Hysterie trug nicht dazu bei, das Problem ruhig und verständig zu lösen. Die Rechenlehrerin sprang nicht minder hysterisch um mich herum, schlug ein ums anderen Mal die Hände über ihrem Kopf zusammen und rief immerfort „Kinder Gottes! Hach, Kinder Gottes!“, und die Mitschüler kreischten und bogen sich vor Lachen.

Der Direktor wurde geholt, besah sich den Fall, versuchte, meinen Kopf in verschiedene Richtungen zu drehen, blieb aber ebenfalls erfolglos. Er entschied, nun müsse der Hausmeister geholt werden, damit dieser den Stuhl irgendwie auseinander bauen sollte. So geschah es dann auch, ich wurde befreit, aber der Spott der anderen Kinder blieb mir noch lange erhalten. Viele, viele Jahre später – ich ging schon in die Oberstufe des Gymnasiums – wollte ich mal mit dem Autobus fahren. Weil der aber noch nicht da war, setzte ich mich an der Haltestelle hin. Die Sitzfläche war aus Metall, das von Löchern durchsetzt war, vermutlich um Regenwasserpfützen zu verhindern. Ich saß also da und hing meinen Gedanken nach. Dann sah ich von ferne den Bus nahen. Hurtig wollte ich aufspringen – aber, oh weh! Während ich so meinen Gedanken nachgehangen hatte, hatte sich mein linker Daumen in eines der Löcher verirrt, und ich brachte ihn nicht mehr heraus! Grad so, wie wenn man sich einen Ring ansteckt, den man dann nicht mehr runter bekommt! Was ich auch versuchte, ich konnte nicht aufstehen. Ich saß fest.

Der Bus kam an, hielt, öffnete die Türen, und der Fahrer sah mich fragend an. Ich schüttelte den Kopf und heuchelte Desinteresse. Der Busfahrer sollte nicht merken, dass ich festsaß, es war mir peinlich. Daher tat ich so, als säße ich nur aus Jux und Tollerei dort herum, weil es mir halt Spaß machte, an hässlichen Bushaltestellen herumzusitzen. Der Fahrer zuckte mit den Schultern und fuhr weiter. Es muss mir später gelungen sein, mich zu befreien, jedenfalls weiß ich sicher, dass ich nicht noch immer dort sitze.

Wieder einige Jahre später befand ich mich in einem unangenehmen Bewerbungsgespräch, das eh schon nicht so supergut lief, weil ich auf die Frage des potenziellen Arbeitgebers nach meinen Hobbys antwortete: „Ich habe eigentlich keine Hobbys, höchsten abends mit Freunden abhängen.“ Auf die Nachfrage des potenziellen Arbeitgebers, wie genau er sich dieses „Abhängen“ denn vorzustellen habe, machte ich die typisch Geste für „Kopf in’ Nacken, Bier reinschütten“. Ich bereute das blitzschnell und wurde nervös. Unruhig fummelte ich mit der rechten Hand an dem rechten neuen Lederstiefel herum. Die Stiefel hatte ich mir eigens für das Bewerbungsgespräch gekauft. Und die hatten so kleine Zierschlaufen hinten oben am Schaft. Schwupp – war mein Zeigefinger drin. Der Bushaltestellen-Effekt trat wieder ein. Mir wurde heiß und kalt. Dass ich die Stelle nicht kriegen würde, war dem Mann auf der anderen Seite des Schreibtisches und mir gleichermaßen klar, aber ich wollte hier wenigstens in Würde verschwinden können.

Doch der Schutzheilige der Eingeklemmten und Feststeckenden muss mich übersehen und mein stummes Flehen überhört haben. Der Mann stand recht unvermittelt auf, hielt mir seine Hand zum Schütteln hin und sagte: „Gut, Sie hören dann von uns.“ Ich begann albern zu kichern, ich konnte nicht anders. Der Mann sah mich merkwürdig an. Ich versuchte ihm mit knallrotem Kopf giggelnd zu erklären: „Ich kann Ihnen nicht die Hand geben, und ich kann auch nicht aufstehen. Mein Zeigefinger steckt in meinem Stiefel fest.“ Der Mann zog ein paar Sekunden lang die Augenbrauen hoch: „Was?“ – „Ja, wirklich“, sagte ich. „Ich weiß, dass das vielleicht etwas blöd klingt.“ Er kam auf meine Seite des Tisches, besah sich das Dilemma und musste auch lachen: „Na ja, ich weiß auch nicht, was in einer solchen Situation zu tun ist, dafür gibt es weder Richtlinien noch Schulungen – sollte man vielleicht mal einführen.“ Glücklicherweise konnte ich mich selbst, nachdem die Situation da etwas entspannter war, an den eigenen Haaren aus dem Loch wieder rausziehen. Der Stiefel hatte ja einen Reißverschluss, das hatte ich in meiner Panik nicht bedacht. Den öffnete ich ein wenig, schon ließ die Spannung nach, der Zeigefinger ging wieder raus und ich konnte gehen. Von dem Mann habe ich nie wieder etwas gehört, nicht mal eine Absage bekommen.

CORINNA STEGEMANN