Dann kam die Wut

Frauen nahmen den Atom-GAU anders wahr als Männer, sagt Soziologin Irmgard Schultz

Interview HEIDE OESTREICH

taz: Frau Schultz, in den Protestveranstaltungen nach Tschernobyl traten massiv Frauen und Mütter auf. Noch 1987 wurden 1.500 Frauengruppen gegen Atomkraft in Deutschland gezählt. Sie haben damals AktivistInnen in Hessen befragt. Hatten Männer keine Angst vor verseuchter Milch?

Irmgard Schultz: Die Männer hatten sicher ebenfalls Angst. Allerdings haben vor allem Frauen ihre Betroffenheit laut artikuliert. Dann kam dazu die Wut, als Frauen – als Eltern – Folgen einer unverantwortlichen Energiepolitik bewältigen zu sollen. Daher auch der Slogan „Früher Trümmerfrauen – Heute Strahlenfrauen“.

Die Politik hat vor allem mit Beschwichtigungen reagiert. Gab es tatsächlich so etwas wie Desinformation?

Das Krisenmanagement lag bei den Bundesländern. Die haben völlig unterschiedliche Grenzwerte kommuniziert, etwa für die Belastung der Milch. Das war verwirrend und unglaubwürdig. In Hessen wollten Mütter- und Elterninitiativen, dass das verstrahlte Gras wie in Schweden als Sondermüll gelagert wird. Stattdessen wurde kontaminiertes Gras mit unverstrahltem gemischt, um die Grenzwerte einzuhalten. Die Initiativen kritisierten, dass sich diese Grenzwerte an gesunden erwachsenen Männern orientieren, die natürlich auch nicht schwanger sind. Dann wurde aber bekannt, dass die Strahlung Embryonen besonders schädige. Und es gab in der Tat Frauen, die aus Angst abgetrieben haben.

Die Frauen hätten hysterisch reagiert, hieß es oft. Waren sie hysterisch?

Das ist der zentrale Begriff, mit dem speziell Frauen in der Geschichte als nicht ganz normal abstempelt wurden. Der Begriff dient zur Denunziation von Frauen, nur von Frauen. Den sollten wir streichen. Die Frauen haben Emotionen ausgedrückt, was im öffentlichen Raum verpönt ist. Klar gab es Abwehrreaktionen.

Frauen stehen laut Umfragen Risikotechnologien generell skeptischer gegenüber als Männer. Verdrängen Männer mögliche Folgen nur besser, weil sie weniger konkret damit befasst sind?

Sie sind auch konkret damit befasst, reagieren aber überwiegend anders. Eine Studie über das Risikoverhalten nach Lebensmittelvergiftungen zeigt, dass auch junge Frauen, die noch wenig mit Haushalt und Familie zu tun haben, ein anderes Risikobewusstsein haben als Männer. Sie vergrößern das Risiko eher und versuchen es dann zu vermeiden, während die Männer, die ebenfalls eine Lebensmittelvergiftung erlebt hatten, mögliche Ernährungsrisiken bagatellisieren. Das ist im Straßenverkehr ähnlich. Das scheint tatsächlich ein kultureller Geschlechtsunterschied zu sein.

Ist es auch eine Machtfrage? Wer meint, er habe alles im Griff, hat vor den Folgen weniger Angst, als jemand, der wenig Einfluss ausüben kann und sich deshalb leichter ausgeliefert fühlt, oder?

Auch dazu gibt es Forschungen. In den USA hat man festgestellt, dass die weißen Männer, die den meisten Einfluss haben, am wenigsten risikosensibel waren. Weiße Frauen und schwarze Männer waren ungefähr auf einer Stufe, und am vorsichtigsten waren die schwarzen Frauen. Dies wird daraus erklärt, dass die schwarzen Frauen am wenigsten das Gefühl haben, etwas am Risiko ändern zu können. Wichtig ist also die Gestaltungsmacht und der Zugang zu Ressourcen, beispielsweise zur Mobilität. Nach der Tschernobyl-Katastrophe haben sich Wohlhabende zum Teil mit ihren Kindern auf wenig kontaminierte Inseln in Sicherheit gebracht und dort einige Wochen abgewartet.

Haben die Mütter gegen Atomkraft etwas im Umgang mit Risikotechnologien verändert?

Unter anderem haben sie natürlich den Atomausstieg mit vorbereitet. Aber die stärksten Wirkungen hatte Tschernobyl wohl in der Wissenschaft. Man hat das Konzept der vulnerablen Gruppen weiterentwickelt. Das heißt, dass man für verschiedene Risikogruppen wie etwa Schwangere, Kinder und Kranke differenzierte Krisenmanagement-Strategien entwickelt und auch im Hinblick auf „soziale Empfindlichkeit“.

Das ist schon in den Katastrophenplänen der Landesregierungen berücksichtigt?

Das weiß ich nicht. Aber in der Öffentlichkeit tut sich etwas. Nehmen Sie das Beispiel des Hurrikans über New Orleans. Im amerikanischen Fernsehen wurde skandalisiert, dass das Krisenmanagement überhaupt nicht an soziale Unterschiede gedacht hatte und dann Tausende von Menschen im Stich ließ. Mit so einer Blindheit gegenüber diesen Faktoren kommt man heute nicht mehr durch.