Peter Higgs mag keine Gottesteilchen

VON LUTZ DEBUS

Viele, die in den 1970er Jahren die Schulbank drückten, lernten im Physikunterricht noch, dass das Elektron das kleinste aller Teilchen sei. Vielleicht hatten die Lehrplanverfasser jener Zeit einfach Angst, die Schüler mit Unerklärlichem zu belasten. Denn bereits vor 50 Jahren nahmen der britische Forscher Peter Higgs und sein belgischer Kollege François Englert an, dass es sehr viel kleinere Bestandteile unserer Materie gebe und dass nicht alles Materie sei, was so wirke. Für diese Theorie, die fortan Wissenschaftler auf dem gesamten Globus beschäftigte, werden nun Higgs und Englert den diesjährigen Nobelpreis am 10. Dezember verliehen bekommen, teilte die Königliche Akademie in Stockholm am vergangenen Dienstag mit.

In einem Zusatz einer wissenschaftlichen Arbeit zur Festkörperphysik erwähnte Higgs 1964 erstmalig ein Teilchen, das irgendwie ebenso als Schwingung zu klassifizieren sei. Alle Forscher, die sich auf jene Arbeit fortan bezogen, nannten jenes Teilchen das Higgs-Teilchen, obwohl unabhängig von Higgs auch Englert und der inzwischen verstorbene Robert Brout, die Amerikaner Gerald Guralnik und Carl R. Hagen und der Brite Tom Kibble gleichzeitig in ihren Arbeiten zu ähnlichen Ergebnissen kamen. Dieses Teilchen war viele Jahre nicht nachweisbar, es geisterte nur als theoretisches Konstrukt durch die Fachwelt. Als der Physik-Nobelpreisträger von 1988, Leon Lederman, ein Higgs-Buch mit dem Titel „Das gottverdammte Teilchen“ schreiben wollte, machte sein Verleger einfach „Das Gottesteilchen“ daraus. Seitdem geistert der Begriff durch die Medien. Auch Higgs mag diese Bezeichnung überhaupt nicht: „Ich widerspreche mit allem Nachdruck.“ Für den überzeugten Atheisten führt diese Bezeichnung in die „falsche Richtung“.

Viele Fragen rankten sich fortan um dieses Elementarteilchen. Könnte es die Existenz der Materie und seiner Masse erklären? Ist das Teilchen vielleicht das, was die Welt zusammenhält? Und lässt es Rückschlüsse zu, die den Urknall, den unser Universum vor etwa 13,7 Milliarden Jahren schuf, verständlich macht? Die Grenze zu philosophischen Sichtweisen war fließend. Immer wieder tauchten in der eher konservativen Fachwelt hingegen Stimmen auf, die die Existenz des Higgs-Teilchens schlichtweg bezweifelten.

Vor einem Jahr allerdings gelang es zu beweisen, dass Peter Higgs Recht hat. Im größten Teilchenbeschleuniger der Welt, dem Large Hadron Collider (LHC) im Kernforschungszentrum Cern bei Genf, wurden Bleikerne und auch Protonen mit nahezu Lichtgeschwindigkeit aufeinander geschossen. Die Energiefelder, die bei dem Zerfall der Teilchen entstanden, wurden durch Detektoren gemessen. Diese glichen denen, die Higgs vorausgesehen hatte.

Dabei ist jener Teilchenbeschleuniger nicht unumstritten. Er ist in einem ringförmigen Tunnel in einer Tiefe von bis zu 175 Meter unter der Erde im Grenzgebiet zwischen Frankreich und der Schweiz untergebracht und hat einen Umfang von über 26 Kilometern. In dem Stahlrohr, durch das die Teilchen sausen, herrscht Vakuum. Es muss auf –271 Grad Celsius heruntergekühlt werden. 9.300 Elektromagnete auf der Strecke sorgen für die nötige Geschwindigkeit. Der Beschleuniger, an dem sich 20 europäische Staaten beteiligen, kostete in der Anschaffung 3 Milliarden Euro. Im laufenden Betrieb verbraucht der Large Hadron Collider etwa ein Zehntel so viel Strom wie der ganze Kanton Genf.

Dem breiten Publikum wird nicht auf Anhieb verständlich sein, warum dem 84-jährigen Peter Higgs und dem 80-jährigen François Englert der mit 900.000 Euro dotierte Preis zugesprochen wird. Die Annahme, die nun ausgezeichnet wird, ist ein halbes Jahrhundert alt. Sie führt nicht unmittelbar zu einer Veränderung unseres Lebens. Peter Higgs sieht dies allerdings anders. Als er von der Entscheidung des Komitees informiert wurde, sagte er: „Ich hoffe, dass diese Anerkennung für die Grundlagenforschung das Bewusstsein für den Wert des Forschens ins Blaue hinein schärft.“