Für eine Hand voll Euro mehr


AUS DÜSSELDORF CLAUDIA KÖNSGEN

Die Mittagsmesse in der Andreaskirche ist gerade zu Ende gegangen. Noch bevor die ersten Kirchgänger die Treppenstufen herunter gehen, hat sich Nicole „Nick“ Langanke vor dem Eingang postiert. Sie drückt noch schnell ihre Zigarette aus, dann beginnt für die zierliche Frau ihr Arbeitstag. Seit zwei Jahren verkauft die 43-Jährige die Obdachlosenzeitschrift fiftyfifty in der Düsseldorfer Altstadt.

Als „Sprachrohr der Verkäufer und Verkäuferinnen“ bezeichnet der Streetworker Oliver Ongaro das Blatt, das seit zehn Jahren erscheint und sich ausschließlich über die Zeitung finanziert (siehe Kasten). Die Grundidee von Obdachlosenzeitschriften, so Ongaro, sei es, „dass Menschen nicht betteln müssen, und so ihre Würde wieder erhalten“.

Nick jedenfalls ist froh, dass sie den Tag über mit dem Zeitungsverkauf beschäftigt ist. „Dann sitze ich wenigstens nicht nur herum.“ In Jeans und flippigen Turnschuhen gekleidet und mit einer grünen Umhängetasche bestückt, friemelt sie schnell noch ihren Lichtbildausweis mit der Nummer 707 am Mantelkragen zurecht. So erkennt man sie als registrierte Verkäuferin, als eine von insgesamt über 800 in Düsseldorf, von denen laut fiftyfifty-Chefredakteur Hubert Ostendorf derzeit gut 200 aktiv sind. Auf diese Weise möchte sich Nicole etwas zu ihrer monatlichen Sozialhilfe hinzu verdienen. „Mit 345 Euro im Monat kann man, wenn man auf der Straße lebt, nichts reißen“, sagt sie. Von den 1,50 Euro, die ein Exemplar kostet, dürfen die Obdachlosen die Hälfte behalten. „Von dem Geld lege ich mir abends etwas zurück, um am nächsten Tag neue Zeitungen zu kaufen“, erzählt Nick. Der Rest geht für Essen und Trinken, Zigaretten sowie Kleidung drauf.

„Zeitschriften zu verkaufen wird immer schwieriger“, beschwert sie sich. Es gebe mittlerweile einfach zu viele Verkäufer, die sich gegenseitig Konkurrenz machen. Das bestätigt auch fiftyfifty-Chefredakteur Ostendorf. Nichts merkt er davon, dass laut Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen die Zahl der Obdachlosen in NRW mit 17.000 BürgerInnen den niedrigsten Stand seit zehn Jahren erreicht haben soll.

Angefangen hat Nicoles sozialer Abstieg mit ihrer Drogensucht. „Hätte ich vor 30 Jahren nur nicht damit angefangen“, klagt sie. Wegen ihres Heroinkonsums durfte die ausgebildete Krankenschwester ihren Beruf nicht mehr ausüben. 1985 sprach ihr ein Richter ein Berufsverbot aus. Trotz Methadonprogramm, an dem sie nach eigenen Angaben seit 15 Jahren teilnimmt, gelingt es ihr nicht, von den Drogen wegzukommen. Obwohl sie die Dosis sehr weit heruntergeschraubt habe, versichert sie. „Damit belohne ich mich jeden Abend nach der Arbeit.“

Auf ihr Äußeres versucht sie dennoch zu achten. Nick schminkt sich und sieht zu, dass ihre Kleidung sauber ist. „Schlecht geht es mir sowieso, das muss man mir nicht auch noch ansehen“, meint sie. Sie leide an Asthma und bekomme in den letzten Tagen schlecht Luft, weil ihr Spray aus ist. Aber auch die Psyche sei angeschlagen. „Ich wünsche mir so sehr ein Zuhause. Ich will nicht länger neben einer schnarchenden Frau in der Notschlafstelle einschlafen.“

Seit sieben Jahren schon ist Nicole wohnungslos, schläft in Kaufhauseingängen, in Notschlafunterkünften oder kommt bei Bekannten unter. Damit ist Nick nach der letzten Schätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. in Bielefeld eine von 67.000 Frauen, die in Deutschland ohne Wohnung sind. „Seit der Trennung von meinem Mann vor knapp zehn Jahren bekomme ich es nicht mehr auf die Reihe, eine Bleibe zu finden“.

Dabei würde das Sozialamt die Miete für eine bis zu 45 Quadratmeter große Wohnung übernehmen, bei 6,40 Euro pro Quadratmeter plus Heizung wären das knapp 290 Euro, rechnet Anne Wotschke vom Sozialamt Düsseldorf vor. Aber viele Vermieter reagierten verschreckt, berichtet Nick, „wenn sie hören, dass ich Sozialhilfeempfängerin bin“. Darüber hinaus gebe es derzeit in ihrer Preisklasse nichts, sagt sie.

„Interesse an einer Obdachlosenzeitschrift?“ Nick geht auf die Kirchgänger zu und hält ihnen das Bündel fiftyfifty-Ausgaben hin. Die wenigsten antworten, die meisten schütteln nur den Kopf. Ein junger Mann winkt ab. „Es gibt einfach zu viele Verkäufer“, sagt er. „Würde ich jedes Mal eine Zeitung kaufen oder was spenden, würde mein ganzes Monatsgehalt draufgehen.“

Nick geht unruhig in der Märzsonne auf und ab, sie zittert. Dann zündet sie sich eine Zigarette an. Sie muss sich jetzt schon Gedanken darüber machen, wo sie die Nacht über bleibt. Die letzte ist sie bei einem Kumpel untergekommen, erzählt sie. Da liegen auch noch ihre Anziehsachen und ihre Teddybärensammlung herum. Am liebsten würde Nick mit ihrem Freund in der Notschlafstelle übernachten. Allerdings müssen sie das Geld für einen Schlafplatz, das sind drei Euro, erst noch verdienen, denn die Einnahmen der letzten Tage hat sie schon in Hochprozentiges investiert.

Wenn das Geschäft vor der Kirche mal nicht so gut läuft, stelle sie sich schon mal nachmittags vor einen Supermarkt in der Charlottenstraße, gleich um die Ecke vom Straßenstrich, wo sie auch schon angeschafft habe, erzählt Nick. Dort würden Kunden ihr Kleingeld, das sie an der Supermarktkasse zurückbekommen haben, schon mal in ihren Kaffeebecher werfen. Besonders am frühen Abend sei dort Betrieb, „wenn die Leute von der Arbeit kommen“.

Vor dem Gotteshaus wird die Frau mit ihrem Stapel Zeitungen in der Hand von den meisten Kirchgängern gar nicht beachtet. Ein einziges Exemplar verkauft sie hier. Doch dann tritt ein älterer Herr auf Nick zu und wirft ihr eine Zwei-Euro-Münze in ihren leeren Kaffeebecher sowie aufmunternde Blicke zu – ein Stammkunde. Er finde es gut, „dass Obdachlose etwas gegen ihre Situation tun“, erklärt er. Nicht alle seien so freundlich, erläutert Nick. „Manche schimpfen: geh doch arbeiten.“ In solchen Situationen versuche sie dennoch nett zu bleiben und den Passanten zu entgegnen: „Was tue ich denn hier? Das ist meine Arbeit.“

Inzwischen ist die Andreaskirche leer, auch die Treppenstufen sind verwaist. Nick packt ihren Stapel fiftyfifty und macht sich auf den Weg zum Supermarkt.