Die elegante Rakete

Ronnie O’Sullivan, dem Exzentriker mit dem Hang zur Depression, ist in dieser Saison nicht allzu viel gelungen. Bei der Snooker-WM zeigt er endlich wieder, was er kann, und zieht ins Viertelfinale ein

AUS SHEFFIELD SUSANNE BURG

Mit seiner neuen Frisur sieht er aus wie der kleine Bruder von Noel Gallagher. Wie ein Britpopper. Aber viel wichtiger: Der Star im Snooker-Geschäft hat den Groove wieder gefunden. Es swingt, wenn er am Tisch ist, und es kracht mächtig, wenn Ronnie „the rocket“ O’Sullivan eine Kugel nach der anderen in der Tasche versenkt. Nachdem von dem Publikumsliebling in dieser Saison kaum etwas zu sehen war, hat er es beim wichtigsten Turnier der Snooker-Welt ins Viertelfinale geschafft.

Der Weg dahin allerdings war hart. So hart, dass es zwischendurch ganz so aussah, als ob ihn der 23-jährige Newcomer Ryan Day aus dem Rennen schießen würde. „So gut wie Ryan Day gespielt hat, hätte er eigentlich gewinnen müssen“, sagt der zweifache Weltmeister nach der Partie. „Aber ich hatte Glück.“ Und die besseren Nerven. „Im Crucible Theater passieren merkwürdige Dinge“, erklärt er. „Es ist einschüchternd und die Atmosphäre holt jeden mal ein. Auch Ryan Day hat es erwischt.“

Bisher hat es Day nicht über die erste Runde im Crucible hinaus geschafft. Aber in diesem Jahr steht er im Achtelfinale gegen den Weltranglisten-Ersten, hat unerschrocken Kugeln gelocht und führt 9:7, als die beiden den letzten Teil des zweitägigen Matches beginnen. Vier Sätze trennen den jungen Waliser noch vom Viertelfinale. Fast hat er den wichtigen zehnten Satz in der Tasche, da verschießt er eine einfache Kugel. „Come on Ronnie“, rufen die Fans und unterbrechen damit für einen Augenblick die gespannte, dichte, knisternde, fast intime Stille, die so typisch ist für dieses winzige Theater, in dem sonst Shakespeare stattfindet. Gerade mal 800 Zuschauer fasst der Raum. Wie unter einer Lupe fühlten sie sich da am Tisch, berichten die Snooker-Spieler immer wieder. Im letzten Jahr sollte die Weltmeisterschaft umziehen, in eine größere Halle, in der der Boden nicht knarrt, wenn die Spieler um den Tisch laufen, in der die Stimme der BBC-Kommentatoren nicht ganz leise aus den Kabinen in den Saal dringt und die Journalisten nicht im Band-Übungsraum an ihren Snooker-Geschichten schreiben. Aber die Tradition hat gesiegt. Die Weltmeisterschaft bleibt dort, wo sie seit 1877 stattfindet.

Ryan Day hat also eine Kugel verschossen. Er ist sichtlich erschüttert. Kein gutes Zeichen bei einem Sport, bei dem zu 80 Prozent der Kopf über Sieg oder Niederlage entscheidet. Das weiß Ronnie O’Sullivan am besten. Dem genialischen, aber zu Depressionen neigenden Spieler ist der Kopf immer wieder zu seinem größten Feind geworden. Aber am Montagabend scheint es seinem Kopf gut zu gehen. Der 30-jährige Brite tritt an den Tisch und locht eine rote Kugel, die am anderen Ende des vier Meter langen Tisches liegt. Der Beginn eines Laufes, den sein Gegner nun nicht mehr stoppen kann. Fünf Sätze hintereinander gewinnt O’Sullivan. Mit maschinengleicher Präzision und dabei schwebend-elegant locht er eine Kugel nach der anderen. Jetzt fehlt Ronnie O’Sullivan noch ein Satz zum Einzug ins Viertelfinale.

Doch Ryan Day gibt nicht auf und gewinnt den nächsten Satz. Ein Zuschauer fängt laut an zu pfeifen, um sich von seiner Spannung zu befreien. Sofort ermahnt ihn der Schiedsrichter. Der Krimi zieht sich unendlich scheinende neun weitere Minuten hin – bis der zweifache Weltmeister die letzte Kugel locht. „Ich wollte nicht geschlagen werden“, sagt er kurz darauf. „Ich wollte noch drei weitere Tage bleiben.“ So lange dauert nun die nächste Runde, das Viertelfinale. Und die Rakete ist startbereit.