BARBARA BOLLWAHN über ROTKÄPPCHEN
: Drei Quadratmeter DDR

Ein Ferienplatz auf der Ostseeinsel Hiddensee war früher ein totales Privileg. Das merkt man noch heute

Zu Ostzeiten einen Ferienplatz auf der Ostseeinsel Hiddensee zu bekommen war wie Ostern, Jugendweihe und Weihnachten zusammen. Wer sein sozialistisches Haupt auf der kleinen Nachbarinsel von Rügen betten durfte, war privilegiert. Während sich Hiddensee in der Weimarer Republik zum beliebtesten Sommeraufenthaltsort der deutschen Intellektuellen entwickelte, nahmen später der Gewerkschaftsbund, volkseigene Betriebe und die Armee die Insel mit ihren Gästehäusern in Beschlag.

Ich gehörte leider nicht zu den Privilegierten, die es an die schönen Strände mit Blick auf Dänemark schafften. Meine Eltern ergatterten maximal einen Bauwagenbungalow der Gewerkschaft am Schweriner See oder im Thüringer Wald. Doch mit dieser Zweiklassengesellschaft ist es zum Glück vorbei. Heute muss man nur zu einem Apparat greifen, den damals auch nur Privilegierte zu Hause hatten, eine entsprechende Nummer wählen, und schon hat man ein Dach über dem Kopf.

Ein Freund aus Thüringen hatte sich um die Reservierung gekümmert. Im Zug nach Stralsund fragte ich ihn, wo wir unterkommen werden auf Hiddensee. Er erzählte mir von einem Privatquartier bei einer 90-jährigen Frau, die Holzhäuschen in ihrem Garten vermietet. Das klang sympathisch. Ich fragte ihn nach dem Preis. Als er „10 Euro pro Nacht und Person!“ antwortete, dachte ich an Ostern, Jugendweihe und Weihnachten zusammen. Doch der billige Preis hatte seinen Preis: Die Sanitäreinrichtungen, klärte er mich auf, bestünden aus einem Plumpsklo und einer Dusche im Freien. Schweigend fuhren wir bis Stralsund, wo wir die Fähre nahmen.

In Vitte verließen wir die Fähre und machten uns mit den Rädern entlang den Dünen auf den Weg. Von der Ostsee konnte ich kaum etwas sehen. Es regnete in Strömen. Patschnass standen wir schließlich vor einem verwilderten Garten. Die Holzhäuschen waren, um es gelinde auszudrücken, drei Quadratmeter original DDR: die Matratze, das Wachstuch auf dem wackeligen Tisch, die alte Heizröhre unter dem Bett, der Fußabtreter, die Kochplatte, der alte Stromzähler und die vergilbten Strafzettel der Volkspolizei an der Wand, durch die der kalte Wind pfiff, das Plumpsklo am Ende eines verschlungenen Weges, die Dusche, die eine kleine Pumpe war und zugleich als Spülecke diente.

Es war vor allem die Enge, die mich an die DDR erinnerte. Ich konnte mir genau vorstellen, wie in Ordnung das alles zu Ostzeiten war, noch dazu im Sommer, wenn die Werktätigen, erschöpft vom Aufbau des Sozialismus, Sandburgen hochzogen. Aber jetzt? Jetzt könnte man daraus ein Museum machen und Eintritt verlangen. Seht, so haben die Menschen in der DDR Urlaub gemacht! Vorsichtig setzte ich mich auf das schmale Bett und musste plötzlich an den Satz denken, den Michail Gorbatschow im Oktober 1989 dem uneinsichtigen Erich Honecker gesagt haben soll: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.

Wir beschlossen, ein anderes Quartier zu suchen. In der „Hotelanlage Heiderose“ mieteten wir ein Reetdach-Haus mit Ikea-Einrichtung. Nicht wirklich schön, aber mit Platz, Heizung und Dusche. Der Thüringer Freund kannte die Anlage in der Dünenheide noch aus seiner Kindheit. Damals hatte das Kombinat „Fahrzeug und Jagdwaffenwerk Suhl“ seine Arbeiter dort in die Ferien geschickt. Als er sich an der Rezeption umsah und bemerkte, dass jetzt alles ganz anders aussah als früher, schaute ihn die Dame am Schalter pikiert an. „Früher“, sagte sie, „früher hatten wir auch einen Kaiser.“ Wir füllten den Anmeldeschein aus und gingen an den Strand.

Der Strand war sehr schön. Es gab sogar Hühnergötter, diese schwarzweißen Feuersteine mit einem Loch drin. In der DDR wurde bekanntermaßen allerhand manipuliert, doch die Löcher in den Steinen stammten nicht von Vater Staat, sondern von Mutter Natur. Sie sollen geheimnisvolle Kräfte besitzen und vor allerhand Unheil schützen. Ich habe drei Hühnergötter gefunden. Einen davon trug ich die ganze Zeit bei mir. Es hat geholfen. Der Urlaub auf Hiddensee war noch sehr schön.

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