„Jeder Antrag wurde haargenau überprüft“

ASYL Der Westen wollte in den 1950er Jahren längst nicht alle Flüchtlinge aus der DDR aufnehmen. Der Historiker Keith R. Allen hat nun das Aufnahmeverfahren in Marienfelde erforscht

■ ist studierter Ökonom und promovierter Zeithistoriker und arbeitete am US Holocaust Memorial Museum in Washington.

INTERVIEW MARTIN RANK

taz: Herr Allen, Sie haben die Aufnahme der Flüchtlinge im Notaufnahmelager Marienfelde in den 1950er Jahren erforscht – eine Geschichte des Kalten Krieges, die heute weniger bekannt ist. Ist es richtig, dass in den frühen 50ern jeder zweite DDR-Flüchtling abgelehnt wurde?

Keith R. Allen: Ich kenne die genaue Zahl nicht, aber es wurden in den frühen 50ern viele Menschen abgelehnt. Die Flüchtlinge mussten nachweisen, dass sie in der DDR politisch verfolgt wurden. Dies wurde in den ersten Jahren ziemlich restriktiv ausgelegt. Das hatte den Hintergrund, dass die Leute im Osten bleiben sollten.

Warum wollte man sie in der BRD nicht aufnehmen?

Während der Stalinisierung des Ostens wollte man das demokratische Potenzial dort nicht noch weiter geschwächt sehen. Außerdem sollte verhindert werden, dass die Stalinisierung auf den Westen überschwappt. Das sahen die Westalliierten so, die Westberliner und die Bonner Behörden. Sie wollten die Demokratie im Westen vor Spitzeln und Spionen beschützen, die ja durchaus geschickt wurden. Darum wurden die Gründe der Flucht und die Lebenslagen jedes Einzelnen bei dem Aufnahmeverfahren im Notaufnahmelager Marienfelde sehr genau unter die Lupe genommen.

Wie hat der Ausschuss beurteilt, wer politisch verfolgt wird?

Gute Frage. Im Aufnahmeverfahren gab es dazu bis Anfang der 1950er keine festen Vorgaben. Später gab es Gesetze, aber ein Spielraum blieb immer vorhanden. Die Westalliierten wollten jedenfalls, dass jeder Antrag haargenau überprüft wird.

Was geschah mit denen, deren Antrag abgelehnt wurde?

Die meisten, die abgelehnt wurden, blieben in Westberlin, Tausende. Sie haben so etwas wie eine Randexistenz geführt: Sie durften nicht arbeiten und hatten einen schweren Stand, überhaupt ein Dach über dem Kopf zu finden. Das war ein ernst zu nehmendes Problem. Diese Not haben auch die Westberliner Behörden nach einiger Zeit erkannt. Dennoch hat es oft Jahre gedauert, bis sie den Flüchtlingen Wohnraum zuweisen konnten. Es war ja noch sehr viel zerstört. Ende der 50er Jahre wurden schließlich fast alle Anträge anerkannt.

„Die meisten, die abgelehnt wurden, durften nicht mehr arbeiten“

Warum das?

Das hing sicher auch mit der sehr positiven Wirtschaftsentwicklung im Westen zusammen. Aber die politische Befragung blieb weiter bestehen, sie wurde nur weniger restriktiv ausgelegt. Nach dem Bau der Mauer ist die Flüchtlingsflut dann verebbt. Aber die Überprüfung blieb in Westberlin auch dann bestehen.

Die Alliierten wollten durch die Flüchtlinge auch Informationen über die Sowjets und die DDR erlangen. Im Aufnahmeverfahren durften die Amerikaner die Flüchtlinge als erste befragen. Um welche Informationen ging es?

Man wollte die militärische Schlagkraft der Gegenseite abtasten, herausfinden, wo Truppen stationiert sind, Informationen im atomaren Wettrüsten erhalten. Aber es ging auch darum, die wirtschaftliche Entwicklung einzuschätzen. Es war eine Zeit, in der es noch sehr schwierig war, mithilfe von Technik Einblicke in das gegnerische Lager zu gewinnen. Radar- und Abhöranlagen oder Überflüge wurden zur Aufklärung zwar schon eingesetzt, waren aber sehr kostspielig. Und die Flüchtlinge lieferten Informationen quasi umsonst. Das waren Kenntnisse, deren man sich leicht bedienen konnte. Die meisten Antragsteller waren für die Alliierten allerdings nicht interessant.

Wie häufig konnte man über die Flüchtlinge denn an brisante Informationen gelangen?

Schwer zu sagen. Fakt ist aber, dass die Erstbefragung durch die Westalliierten den Bonner und Berliner Behörden von Anfang an ein Dorn im Auge war. Und es gab genügend Fälle, um über Jahre Streitigkeiten auf höchster politischer Ebene zu provozieren.

■ Knapp vierzig Jahre lang – von 1953 bis 1990 – diente das Notaufnahmelager Marienfelde in Westberlin als erste und zentrale Anlaufstelle für Flüchtlinge und Übersiedler aus der DDR. Hier durchliefen sie auch das Aufnahmeverfahren, um eine Aufenthaltserlaubnis für die Bundesrepublik einschließlich Westberlin zu erhalten.

■ Auf Initiative von ehemaligen Flüchtlingen, Mitarbeitern des Notaufnahmelagers sowie interessierten Wissenschaftlern gründete sich 1993 der Verein Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde e. V. mit dem Ziel, die Geschichte des Notaufnahmelagers und der deutsch-deutschen Fluchtbewegung zu erforschen, zu dokumentieren und einer breiten Öffentlichkeit zu vermitteln. Im selben Jahr eröffnete der Verein auf dem Lagergelände eine Ausstellung.

■ Immer sonntags jeweils um 15 Uhr bietet die Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde öffentliche Führungen durch die ständige Ausstellung „Flucht im geteilten Deutschland“ an.

Haben die Alliierten sich auch in die Einschätzung eingemischt, ob jemand als politisch verfolgt angesehen werden kann?

Sie hatten verschiedene Möglichkeiten: Sie konnten das Aufnahmeverfahren blockieren oder auch ganz umgehen. In den meisten Fällen machten sie aber keinen Gebrauch davon. Sie hatten auch Einfluss durch zwei Verbände, die in ihrem Sinne gearbeitet haben. Diese Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit und insbesondere der Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen wurden weitgehend von den Amerikanern finanziert.

Wann ist der Einfluss durch die Alliierten denn zu Ende gegangen?

Die Alliierten waren in Westberlin bis zum Ende der DDR an der Überprüfung von ostdeutschen Flüchtlingen zentral beteiligt. Nicht mit dem Bau, sondern erst mit dem Fall der Mauer erledigte sich dies.