Neue Erinnerungskultur

Yair Auron setzt sich kritisch mit der israelischen Holocaust-Erziehung auseinander. Sein Buch weist den Weg zu neuen pädagogischen Ansätzen

Wie sich nachwachsende Generationen zur Massenvernichtung der europäischen Juden verhalten sollen, ist eine sehr wichtige Frage. Das gilt natürlich für Deutschland so, aber auch und gerade in jenem Land, das den Anspruch erhebt, Würde und Rechte der Opfer des Holocaust wie kein anderes zu vertreten: Israel.

Diese Verantwortung schlägt sich indes nicht nur in materieller Kompensation und politischem Eintreten nieder, sondern auch in einer nationalen Erinnerungskultur, die ihrerseits auf einem gezielten und gewollten pädagogischen Programm aufbaut. Die Gedenkstätte Jad Vaschem zum Beispiel, vor allem dafür bekannt, dass dort politische Besucher aus dem Ausland ihre Kränze niederlegen, spielt in der israelischen Pädagogik eine zentrale Rolle.

Der immer auch politisch instrumentalisierten Nationalpädagogik hat jetzt Yair Auron, Professor an der Open University of Israel und am Lehrerkolleg der Kibbuzim, die ebenso aufschlussreiche wie kritische Studie „Der Schmerz des Wissens“ gewidmet. Auron gehört in Israel zu den ganz wenigen, die sich allen außenpolitischen Interessen zum Trotz mit dem jungtürkischen Genozid an den Armeniern auseinander setzen und ihn eindeutig als Vorläuferverbrechen des Holocaust einordnen.

Ausgehend von der neueren christlicher Holocaust-Theologie beginnt Auron mit „philosophischen Überlegungen“, die ihn zur Geschichte der israelischen Holocaust-Erziehung führen. Er analysiert die Gestalt ihrer Lehrpläne und erlebnisbezogene didaktische Formen: etwa die in Israel stets bedeutsamen Märtyrer- und Heldengedenktage, an denen oft genug auch Rekruten feierlich vereidigt werden, oder die Reisen israelischer Jugendlicher an die Stätten der Vernichtungslager in Polen.

Instruktive Zusammenfassungen empirischer Studien zur Haltung jüdisch-israelischer und arabisch-israelischer Jugendlicher zur Schoah runden den Text ab. Konzeptionelle Betrachtungen zur Vermittlung genozidaler Erfahrungen des 20. Jahrhunderts eröffnen einen tiefer gehenden Ausblick und zeigen, dass nach Aurons Überzeugung eine ausschließliche Unterweisung in der Geschichte des Holocaust in der heutigen Welt zu kurz greift. Zugleich spricht er sich damit gegen jede jüdisch-nationalistische Verengung des zeitgeschichtlichen Unterrichts aus.

Aurons gründlich recherchierte und stets kritisch urteilende Studie ist in einer Zeit unverzichtbar, in der der Holocaust zum Paradigma und zur Ikone einer globalen Erinnerungskultur wird. Darüber hinaus ermöglicht sie es, die israelische Debatte gleichsam von innen kennen zu lernen, da bedeutsame Textstellen aus dem Hebräischen übersetzt sind und auf die englischsprachige Literatur verwiesen wird. So wird deutlich, welche pädagogischen Anstrengungen schon erfolgreich geleistet wurden und was noch zu tun ist.

MICHA BRUMLIK

Yair Auron: „Der Schmerz des Wissens. Die Holocaust- und Genozid-Problematik im Unterricht“. Übersetzt von F. Kautz. Verlag Edition AV, Lich 2005, 258 Seiten, 18 Euro