Ein halbstarker Staatsfeind

31 DDR-Bürger hat Michael Gartenschläger in den Westen geschleust. Dann war dieGeduld der Stasi zu EndeDie Geschichtslehrerin kann nicht ertragen, wenn die DDR heute zum Kuschelland verklärt wird.Ihre Schüler sollen Fragen stellen

AUS SCHWERIN JOSEFINE JANERT

Nur wenige Fotos von Michael Gartenschläger wurden nach seinem Tod veröffentlicht. Eines, aus dem Jahr 1961, zeigt einen 17 Jahre alten Jungen, der ironisch grinst. Das zweite, aus dem Jahr 1976, einen Mann in Anzug und mit Krawatte. Er sieht älter aus als 32, über der Stirn hat sich das Haar gelichtet, neben den Augen haben sich Fältchen gebildet. Gartenschläger steht vor einem Grenzstein mit dem Staatswappen der DDR. In der Hand hält er ein Fernglas, er lacht. Man könnte ihn für einen Touristenführer halten oder für einen West-Onkel vor der Einreise in den Arbeiter-und-Bauern-Staat.

Zwischen diesen beiden Aufnahmen liegen zehn Jahre Gefängnis wegen „staatsfeindlicher Hetze“, zwei Versuche, aus dem DDR-Knast auszubrechen, schließlich der Freikauf in die Bundesrepublik 1971 und fünf letzte Jahre als waghalsiger Fluchthelfer. 31 DDR-Bürger hat er in den Westen geschleust. Dann war die Geduld der Stasi zu Ende.

1976 demontierte Michael Gartenschläger an der deutsch-deutschen Grenze auf eigene Faust Splitterminen vom Typ SM-70. Er wollte beweisen, wie unverfroren der ihm verhasste Staat gegen die UN-Menschenrechtscharta verstieß. Die Aktion war brisant: Die DDR war gerade Mitglied der Vereinten Nationen geworden, die Regierung sonnte sich in der neuen internationalen Anerkennung. Nach der Konferenz von Helsinki wollte sich Honecker als besonders demokratisch präsentieren. Da passten die Minen, die Gartenschläger der Westpresse herumzeigte, nicht ins Bild. Der Spiegel berichtete, und die Stasi bildete umgehend ein Sonderkommando, das gegen den Staatsfeind ermittelte.

Kurze Zeit nachdem das Foto vor dem Pfosten entstanden war, wurde Michael Gartenschläger erschossen, bei seinem dritten Versuch, eine SM-70 abzuräumen. Er war in Begleitung zweier Freunde, die den Kugelhagel überlebten. Er starb in der Nähe von Hagenow im DDR-Bezirk Schwerin, es war die Nacht auf den 1. Mai 1976. Die Stasi beerdigte Gartenschläger in einem anonymen Grab.

Michael Gartenschläger – ein Held, ein Haudegen, Gesprächsstoff für eine zwölfte Klasse? Auf jeden Fall einer aus dem untergegangenen Land DDR. Einem Land, von dem berichtet wird, da sei alles billiger gewesen als heute, die Miete, die Fahrkarten, das Brot. Einem Land, in dem jeder Arbeit hatte und keiner sich um seine Zukunft sorgen musste. Das erzählen die Vierzig- bis Sechzigjährigen, wenn ihre Kinder sie nach der DDR fragen. Die Schüler des Gymnasiums von Pampow, einem Schweriner Vorort, wurden 1987 geboren, sie erinnern sich nicht an dieses Land. Aber ihre Eltern. Viele sagen, da sei alles besser gewesen.

Gabriele Banner hingegen sagt: „Die DDR war eine Diktatur.“ Banner ist Jahrgang 1959, sie unterrichtet in Pampow Deutsch und Geschichte. Auch Gerd Resag sagt „Diktatur“. Er hat Michael Gartenschläger persönlich gekannt. Hat mit ihm im Gefängnis gesessen wegen der Parolen, die sie als Jugendliche an die Wände gemalt haben, im Spätsommer 1961 war das, nach dem Mauerbau. „Ulbricht weg, hat kein’ Zweck!“ und „Nazis und Kommunisten raus!“ Das war in Strausberg, einer Kleinstadt östlich von Berlin. Auch Resag wurde 1971 freigekauft, er lebt heute mit seiner Frau in Hamburg. Um den Schülern zu berichten, wie es war mit Gartenschläger, ist er nach Schwerin gereist.

„Er konnte sich unwahrscheinlich freuen über Dinge“, erzählt Resag. „Ein Draufgänger war er nicht, eher einer, der sich Gedanken macht.“ Er, das ist Michael Gartenschläger, geboren 1944 in Strausberg, Autoschlosser, Ted-Herold-Fan, Rias-Hörer, Staatsfeind. Seit ein paar Wochen ist Gartenschläger in Pampow Thema in Geschichte. Die Schüler haben einen Film über ihn gesehen und mit Frau Banner und einem Juristen über die Verhandlung gegen die drei Grenzsoldaten gesprochen, die im März 2000 mit einem Freispruch endete. Das Schweriner Landgericht hatte ihnen ihre Schuld nicht im Einzelnen nachweisen können. Gartenschläger war in dieser Nacht bewaffnet, möglicherweise schoss er als Erster, man konnte nach so vielen Jahren nichts mehr beweisen. Damals, 1976, erhielten die drei Soldaten Orden und Geld für ihren Einsatz.

Für die Schüler ist das alles schwer vorstellbar – die Orden, der Freispruch, überhaupt die ganze Geschichte des Michael Gartenschläger, die sich hier bei ihnen in Mecklenburg abgespielt hat. Gerd Resag ist ein Besucher aus einer fernen, fremden Zeit. Er hat weißes Haar, die blauen Augen leuchten, um den Hals trägt er ein Goldkettchen. Er lebt davon, dass er auf Mineralienbörsen Ware ausstellt und verkauft. Nach Schwerin ist er auf Einladung von Jörn Mothes gereist. Der Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen gehörte früher zur DDR-Opposition, in seiner Behörde treffen die Schüler den Zeitzeugen.

Resag bittet sie, keinen Vortrag halten zu müssen, Fragen seien ihm lieber. Die Jugendlichen nicken. Die Bücher, die hier überall ausliegen, dokumentieren die jüngere Geschichte Schwerins. Eine andere als die, die viele von ihnen zu Hause hören. Die Bände berichten über die sowjetischen Militärtribunale nach 1945 und über den Stasi-Knast am Demmlerplatz. Eine Karte zeigt „konspirative Wohnungen und Objekte des Ministeriums für Staatssicherheit“, sie sind rot markiert. Schwerins Zentrum ist voller roter Flecke. Draußen vor dem Fenster recken die Bäume ihre Äste in die Sonne. Es ist Frühling.

Gartenschlägers Familie erfuhr erst 1990, dass Michael auf dem Schweriner Waldfriedhof beerdigt wurde. Morgen findet dort eine Gedenkfeier statt, Gerd Resag will auch kommen. Er redet sachlich, scheint sich über das damals Geschehene zu wundern, immer noch.

1960 fuhr er mit ein paar Jugendlichen aus Strausberg nach Westberlin. Sie gingen ins Kino und lasen die Bücher, die im Amerikahaus auslagen. Zu ihnen gehörte auch Gartenschläger, den Resag aus der Grundschule flüchtig kannte. Gerd, der Oberschüler, und Michael, der Lehrling, freundeten sich an. Sie hörten die angesagte amerikanische Musik, die in der DDR verpönt war. Als im August 1961 die Mauer gebaut wurde, zogen sie mit anderen Jugendlichen durch Strausberg, pinselten Sprüche an Wände. Sie fackelten auch eine Scheune ab, „aus purem Protest“, sagt Resag, „und nicht, um die DDR-Wirtschaft zu sabotieren, wie es später hieß“.

Schon im September 1961 wurde den Minderjährigen der Prozess gemacht. Das Haar wurde ihnen nicht geschnitten, damit sie so aussahen, wie sich die DDR-Führung Halbstarke vorstelle. Auch hatte man sie in Kleidung aus dem Westen gesteckt. Im Saal saßen geladene FDJ-Mitglieder, Lehrer, Eltern. Erst hieß es, Gartenschläger, Resag und ihre Freunde sollten zum Tode verurteilt werden, dann bekamen sie „nur“ lebenslänglich und niedrigere Haftstrafen.

Ab hier geht Gerd Resag in seinem Bericht zum unpersönlichen „man“ über. „Irgendwo hatte man das Gefühl, dass man ernst genommen wurde mit seiner Aktion“, sagt er in seinem Berliner Akzent. „Man hatte ja keine Ahnung, dass man später nicht mehr richtig auf die Beine kommt.“

Nach dem Freikauf in die Bundesrepublik, in den Siebzigerjahren, absolvierte Resag in Hamburg die Hochschule für Wirtschaft und Politik. Ihm wurde das Abitur zuerkannt, denn ins Gefängnis war er ohne Schulabschluss gegangen. Im Westen wollte er Jura studieren, aber dafür reichte das Geld nicht. Wenn man 29 Jahre alt ist, verheiratet und das erste Kind ist unterwegs, hat man keine Muße mehr für die Uni. Dann überlegt man, wie man die Familie ernähren kann. So wurde Gerd Resag nicht Anwalt, er handelte mit Antiquitäten. Auch darum hat die DDR Menschen betrogen, um Lebenszeit und Perspektiven.

Der alte Mann erzählt, wie Gartenschläger und er im Knast Arreste verbüßen mussten, in Unterwäsche, mitten im Winter, wie er heimlich Kartoffeln briet, wie sein Freund mit einem nachgemachten Schlüssel ausbrechen wollte. Was mit den Familien geschah, erkundigt sich ein Schüler. Resags Schwester durfte nicht studieren. Sein Vater, ein Mathematikdozent, musste in Strausberg das Fach Staatsbürgerkunde unterrichten. Er wurde genötigt, im Unterricht zu sagen, sein Sohn sei zu Recht verurteilt worden.

Gerd Resag war später an den Aktionen an der deutsch-deutschen Grenze nicht beteiligt. Obwohl er und Gartenschläger nach ihrer Ankunft im Westen beschlossen hatten, „etwas gegen die DDR zu unternehmen, was wirklich etwas bringt und uns gleichzeitig nicht gefährdet“, erzählt er.

Am Gymnasium in Pampow haben sie vor der Fahrt nach Schwerin genau überlegt, was sie Resag fragen können. Solch gute Vorbereitung sei aber eher die Ausnahme, sagt später Jörn Mothes. Seine Behörde will Lehrer unterstützen, die im Unterricht das Thema DDR behandeln. Seine Mitarbeiter halten Vorträge, sie führen Klassen durch den ehemaligen Stasi-Knast am Demmlerplatz, gestalten Projekttage. Doch viele Lehrer schreckten davor zurück, allzu ausführlich über die DDR zu reden, sagt Mothes: „Da kommt natürlich schnell die Frage: ‚Was haben Sie denn damals gemacht?‘“

Gabriele Banner war dabei, als die Schweriner 1989 auf die Straße gingen. Furcht plagte sie, die Stasi könne sie und ihren Mann verhaften und zum Demmlerplatz bringen. Was würde dann mit ihren Kindern geschehen? Sie wurde nicht inhaftiert und kann es trotzdem nicht ertragen, wenn die DDR heute zum Kuschelland verklärt wird, wenn Sandmännchen-Sonnenallee-Nostalgie politische Auseinandersetzung behindert.

Und ihre Schüler? Einer sagt: „Alles in allem hat man trotzdem glücklich gelebt.“ Ein Mädchen: „Die DDR interessiert mich nicht so. Ist ja auch schon ziemlich lange her.“ Andere finden das Thema spannend und wollen jetzt mehr wissen. Sie werden zu Hause nachfragen: Wie war das mit der Grenze? Und mit der Diktatur?

Wer von den Schwerinern den Prozess gegen die Grenzsoldaten im Jahr 2000 nicht verfolgt hat, dürfte allerdings mit dem Namen Michael Gartenschläger wenig anfangen können. Die DDR-Nachrichtenagentur ADN meldete Anfang Mai 1976 nur das Eindringen eines anonymen „Provokateurs“ sowie dessen Tod nach einem Schusswechsel. Der Provokateur ließ in Hamburg eine Freundin zurück und einen Job als Tankwart.

Der Totenschein wurde auf 23.45 Uhr ausgestellt.