Mit ätzendem Witz gegen Neoliberale

Der US-Ökonom John Kenneth Galbraith ist tot. Als einer der profiliertesten Wirtschaftswissenschaftler beriet er mehrere US-Präsidenten. Er kritisierte die Konsumgesellschaft und setzte sich für Chancengleichheit unabhängig vom sozialen Status ein

Galbraith stört den Glauben an die Reichtumsmaschine Kapitalismus

VON RUDOLF HICKEL

John Kenneth Galbraith, das wirtschaftswissenschaftliche Genie aus den USA, ist am Samstag im Alter von 97 Jahren gestorben. Als echter Liberaler, der die Chancengleichheit unabhängig vom sozialen Status herstellen wollte, gilt er heute als profiliertester Kritiker des Neoliberalismus. Der Ökonom, Sozialkritiker, Berater der US-Präsidenten Roosevelt und Kennedy und Diplomat schrieb über 33 Bücher und zahlreiche Aufsätze. Schon in den 50er-Jahren warnte er vor der Spaltung in „öffentliche Armut und privaten Reichtum“. Zudem kritisierte er die ökologischen Folgen des entfesselten Wirtschaftswachstums.

Geboren wurde er am 15. Januar 1908 in Iona Station in der kanadischen Provinz Ontario. Zunächst studierte er an der renommierten Universität von Berkley, 1937 nahm er die US-Staatsbürgerschaft an und wechselte an die Eliteuniversität Harvard. Er promovierte zur Agrarwirtschaft, wandte sich dann aber endgültig den großen Fragen der Entwicklung kapitalistischer Ökonomien zu.

Mit Superlativen gilt es sparsam umzugehen. John Kenneth Galbraith darf dennoch als einer der ganz großen Analytiker und Reformer des modernen Kapitalismus bezeichnet werden. Mit seiner ungeheuerlichen Schreibwut hat er dessen Triebkräfte aus Vermachtung und Interessengegensätzen sowie dessen Krisenanfälligkeit beschrieben.

Seine Erfolge sind auf zweierlei zurückzuführen. Zum einen formuliert er gut lesbar, aufklärend und gespickt mit ätzendem Witz. Zum anderen führt er verschiedene Fachdisziplinen zusammen. Galbraith ist wichtiger Wegbereiter einer evolutorischen Institutionenökonomik. Nach dieser Theorie sind es institutionelle Veränderungen und große Strukturen, die einzelwirtschaftliches Handeln prägen.

Neben seiner Forschungsarbeit drängte es Galbraith immer wieder in die Politik. Dort agierte er allerdings weniger erfolgreich. Während der Präsidentschaft von Roosevelt wollte er Preiskontrollen gegen die kriegsbedingte Inflation durchsetzen. Doch scheiterte er an der Lobby der Großunternehmen. Diese Erfahrung prägte später seine Anatomie des wirtschaftlich vermachteten US-Kapitalismus. 1960 unterstützte er die Kampagne für die Präsidentschaft von John F. Kennedy, seinen Studienfreund. Einen Ministerposten im Kennedy-Kabinett bekam er aber nicht. Er wurde von 1961 bis 1963 Botschafter in Indien.

Sein wissenschaftliches Werk hat große Kontroversen ausgelöst. Die einen halten ihn für einen Visionär in der Tradition von Thorsten Veblen, Joseph Schumpeter und John Maynard Keynes. Die anderen kritisieren ihn als marxistisch verblendeten Sozialisten und Populisten. Der Ökonomenpapst Paul A. Samuelson soll dem schlaksigen Zwei-Meter-Mann abgesprochen haben, Ökonom zu sein. Während Samuelson bereits im zweiten Jahr der Vergabe den Nobelpreis für Ökonomie erhielt, wurde diese Ehrung Galbraith nie zuteil.

In den vergangenen Jahren sank seine Popularität. Den derzeitigen Glauben an die Erlösung durch die Reichtumsmaschine Kapitalismus stören offenbar die Galbraith’schen Botschaften von einer solidarischen Ökonomie. Sein Tod sollte Anlass sein, sein Werk für eine politisch gestaltete, solidarische Wirtschaftsgesellschaft neu zu entdecken.

Obwohl er den Theorierevolutionär John Maynard Keynes aus Großbritannien oft widersprochen hat, sind große Übereinstimmungen unübersehbar. Galbraith begründet wie Keynes die Notwendigkeit politischer Gestaltung zur Vermeidung von Wirtschaftskrisen und zur Versorgung mit öffentlichen Gütern. Er fordert eine soziale Absicherung gegen Risiken, die die Märkte für die schaffen, die vom Erwerbseinkommen existenziell abhängig sind. Im 1998 vorgelegten Essays zur „solidarischen Gesellschaft“ plädiert er ordnungspolitisch „für eine moderne soziale Marktwirtschaft“.

Anstatt wie die Neoklassik die Idylle vom vollkommenen Wettbewerb zu modellieren, hebt Galbraith die ökonomische Konzentration auf wenige Megaunternehmen hervor. Diese können ihre Preissetzungsmacht nutzen. Zwar soll eigentlich eine „unsichtbare Hand“ über die einzelwirtschaftliche Rationalität hinaus die gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt optimieren. Aber sie ist laut Galbraith durch das Shakehand der Unternehmer abgelöst worden.

In seinem 1952 vorgelegten Bestseller zum „American Capitalism“ zeigt er die Wirkungen der ökonomischen Monopolmacht. Er folgert – wohl auch mit Blick für die realen Machtverhältnisse – nicht, dass die Monopole zerschlagen werden müssen. Er setzt darauf, dass ökonomisch geballte Macht Gegenmacht durch Gewerkschaften erzeugt und der intervenierende Staat die Balance sichert. Dieses Modell des „organisierten Kapitalismus“ hat jedoch durch den Machtverlust großer Institutionen in den letzten Jahren an Bedeutung verloren.

In „Der moderne Industriestaat“ („The New Industrial State“) greift Galbraith 1967 neuere Entwicklungen im „organisierten Kapitalismus“ auf. Er hebt die Trennung der Kapitaleigner, also Shareholder, gegenüber der wachsenden Schicht von Kapitalfunktionären hervor.

Aus heutiger Sicht hat Galbraith den in den letzten Jahren ausgebauten Einfluss der Kapitaleigner gegenüber den Topmanagern unterschätzt. Heute werden die Vorstandsetagen durch die Kapitalgeber zur Renditesteigerung getrieben. Die Anpeitscher sind Agenten der Shareholder, vor allem die großen Fondsvertreter und die kleine Clique Analysten im Machtzentrum New Yorker Börse.

In seinem wohl wichtigsten Werk, „Gesellschaft im Überfluss“ (The Afluent Society), steckt Galbraith 1958 die für die Wirtschaft wesentlichen Staatsaufgaben ab. Er weist nach, dass ökonomisch bezahlbare Bedürfnisse durch die Profitwirtschaft bedient und vorangetrieben werden. Während dadurch der Überfluss im privaten Reichtum wächst, verarmen mangels Einkommen nicht nur die zahlungsunfähigen Konsumenten. Vor allem verarmt der öffentliche Sektor, weil es keinen entsprechenden Mechanismus zur Sicherstellung seiner notwendigen Produktion gibt. Privatwirtschaftlicher Reichtum innerhalb sich ausbreitender öffentlicher Armut ist die Folge. Dies belegen verwahrloste Städte, defizitäre Infrastruktur und Einkommensarmut.

Galbraith argumentiert für den Abbau dieses Ungleichgewichts zwischen Staat und Privatwirtschaft. Er will die Produktionsmöglichkeiten in den Wohlstand für alle umsetzen, und das heißt „Kampf gegen die Armut“. Die Überflussgesellschaft ist heute für Deutschland aktueller denn je. Durch eine Reichtum schonende Steuerpolitik und Umschichtung der Einnahmen und Lasten im föderalen Bundesstaat konzentriert sich derzeit in Deutschland die öffentliche Armut auf die Gemeinden.

Das 1998 vorgelegte Essay „Die solidarische Gesellschaft“ liest sich wie ein Vermächtnis. Die Ziele seiner „modernen sozialen Marktwirtschaft“ sind: Beschäftigung, Aufstiegschancen für alle Menschen, eine gute Bildung, Freiheit von sozialen Unruhen, ein stabiles Netz, Abbau der elenden Bürokratie sowie eine partnerschaftliche und sozial orientierte Außenpolitik.

John Kenneth Galbraith formulierte sein erkenntnisleitendes Interesse wie folgt: „Die moralische Rechtfertigung für Ökonomen liegt in der Frage, ob sie die Welt verbessern können, in der sie leben.“ Daran sollten künftig Wirtschaftssysteme und deren ökonomischen Theoretiker, Ideologen sowie Politiker gemessen werden.

Der Autor ist Professor für Finanzwissenschaften und leitet das Institut Arbeit und Wirtschaft der Uni Bremen. Er ist Mitglied der „Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik“