Arbeitslos am Strand

Nach der Gesellenprüfung ruft Nordkorea. Aus dem Tagebuch einer Winkerkrabbe

30. März

Soeben Gesellenprüfung bestanden. Note zwei. Theorie eins, Winktechnik nur Note drei. Halte mich auch nicht für geschickt. Geistige Tätigkeit liegt mir wohl eher, aber Familie ist dagegen. Soll bei meinen Leisten bleiben.

2. April

Mutter drängt mich, mit Bewerbungen anzufangen. In der Zeitung gestöbert. Halbherziges Anschreiben an die Polizei formuliert. Rauswinken von Fahrzeugen bei Autobahnkontrollen. Immerhin besser als Regale einräumen im Supermarkt um die Ecke.

8. April

Absage von der Polizei. Ich sei „überqualifiziert und daher für diese Dienststufe nicht geeignet“. Letztlich sehr erleichtert.

18. April

Mutter gibt mir aufgeregt Zeitungsausschnitt: Winkpersonal für Nordkoreas Regierung gesucht. Ich soll im Ausland mein Glück machen. (Dabei Träne zerdrückt.) Skeptisches Interesse. Im Bewerbungsratgeber gelesen.

21. April

Versucht, Passbild zu machen. Automat am Bahnhof defekt. Zu Haus in Fotokiste nach Ersatz gesucht. Wahl zwischen Jugendfoto am Strand oder Partyfoto mit Bierflasche. Tippe Bewerbung für Nordkorea. Doch Jugendfoto.

25. April

Bewerbungsunterlagen vollständig. Habe gutes Gefühl. Spucke dreimal auf den Umschlag.

30. April

„Kierkegaard für Arbeitslose“ gekauft. Guter Schmöker. Verdaddele die Tage am Strand. Dazwischen absichtslose Winkübungen. Stillstand ist Rückschritt.

4. Mai

Neues Mädchen kennen gelernt: Vera. Tolle Scheren! Würde sie mit nach Korea gehen? Vorerst nur Cocktail zusammen getrunken. „Sex on the beach“. Starkes Herzklopfen beim Abschied.

7. Mai

Peinlicher Arbeitsunfall! Heimlich Balzwinken geübt, dabei rechte Schere gebrochen! Arbeitsunfähig krank. Gips. Frustriert. (Wusste nicht, dass ich dermaßen ungeschickt bin.)

12. Mai

Am Strand in Zeitschriften geblättert. Dabei auf Anzeige gestoßen: „Winken Sie gern?“ Berufsbegleitende Fortbildung zur Winker- und Jublerkrabbe, Kostenübernahme durch Arbeitsamt möglich. Eventuell bessere Chancen im öffentlichen Dienst? Gleich Infomaterial angefordert.

18. Mai

Mutter kommt mit neuem Ausschnitt: „Dienstleistungsmarkt für gut ausgebildete Winkerkrabben wächst“. Vera wieder getroffen. Unterschreibt auf Gips. (Herzchen!) Einfall für Winkservice am Flughafen oder Bahnhof.

20. Mai

Mutter und Vera von Geschäftsidee begeistert. Gemeinsames Brainstorming. Businessplan skizziert. Finanzierung leider fraglich. Zins liegt bei 17 Prozent.

26. Mai

Erst mal Gewerbeschein besorgt. Komische Fragen beantwortet.

28. Mai

Gips endlich ab. Schere okay. Arzt warnt aber vor Überanstrengung. Erkläre ihm, dass ich arbeitslos bin. Gemeinsam gelacht.

30. Mai

Mutter wedelt aufgeregt mit Briefumschlag: Antwort aus Nordkorea! Wage kaum, den Brief aufzureißen. Was, wenn sie mich nehmen? Einladung zum Assessment-Center in der nordkoreanischen Botschaft.

4. Juni

Mit Vera neue Krawatte gekauft. Scheußliches Ding. Algengrün. Gestreift. Fast gestritten. Erste Tränen. Danach geknutscht. Ist Vera jetzt meine Freundin?

5. Juni

Mutter mit Krawatte ganz und gar nicht zufrieden. Muss das Stück zurückbringen. Schmach. Sie besteht darauf, dass ich Krawatte vom Vater einbinde. Die sei doch tadellos. Kann ich mich denn gar nicht durchsetzen?

12. Juni

Stapel Bewerbungsratgeber aus der Bibliothek ausgeliehen. Kurzweilig. Interessant. Lesbar. Erstelle nebenbei Konzept für Winkservice. Fühle mich effizient.

16. Juni

Der große Tag: Abreise zum Assessment-Center. Bahnfahrt erster Klasse auf Kosten der Nordkoreaner. Mutter und Vera winken, was das Zeug hält. Ich zeige alles, was ich in der Ausbildung gelernt habe. Glaube, Mitreisende im Abteil sieht mich verliebt an.

17. Juni

Hotel große Klasse. Assessment-Center puppig. Stecke alle Bewerber in die Tasche. Job wohl sicher.

20. Juni

Zur Sicherheit weiter Arbeit an Winkservice-Konzept. Antragsformulare für Ich-AG geholt. „Kierkegaard für Arbeitslose“ weggeworfen. Brillante Zukunft in Sicht. Daneben immer wieder Winkübungen. Nachts einsam.

24. Juni

Habe Korea-Job! Mutter bricht weinend zusammen. Vera läuft aus dem Zimmer. Will ich das wirklich? Vor meinem inneren Auge Plattenbauten, pfeilgerade Prachtboulevards, Militärparaden. Ziehe mich zum Nachdenken an den Strand zurück.

25. Juni

Wieder an den Strand. Stoße auf Flaschenpost! „Linienrichter gesucht. Neutrale Winkerkrabbe angenehm.“ Fühle mich errettet.

30. Juni

Ereignisse überschlagen sich: Fifa lässt mich mit Limousine abholen. Vertrag von Fifa-Chef persönlich unterzeichnet. Nur das Nötigste gepackt. Soll in Berlin beim WM-Finale eingesetzt werden. Sehe durchs Heckfenster Mutter und Vera winken, bis wir um die Biegung sind. Große Rührung. TANJA KÜDDELSMANN