„Das Wichtigste ist, sie nicht zu sehen“

Es sind nur noch wenige bulgarische Bettler in Hamburg. Doch der Streit, ob die stark behinderten Menschen hier betteln dürfen, geht unverändert weiter. Von einer Fortsetzung des mittelalterlichen Zwergenwerfens spricht der Bezirksamtsleiter, der diese Form des Bettelns unterbinden möchte. Die globalisierte Armut lasse sich nicht hinter Mauern ausschließen, sagen dagegen Kirche und Obdachlosen-Vertreter

Nur eines betonte Dimitâr: Er arbeitet jetzt auf eigene RechnungDie Polizisten und Sozialarbeiter fragen immer: Wie geht‘s? Das nervt natürlich

von Friederike Gräff

Man ist diesen Anblick hier nicht gewohnt. Nicht in Hamburg und auch an keinem anderen Ort in Deutschland: Menschen, deren Oberkörper nicht einmal vierzig Zentimeter misst, die keine Beine, sondern nur Stümpfe haben. Menschen, denen das Fleisch an den Armen fehlt, als habe ein Tier es bis auf die Knochen weggefressen. Diese Körper sind ihr Kapital. Es genügt, sie in Hamburgs Einkaufsstraßen zu zeigen, damit die Leute ein bisschen Geld in ihre Pappbecher werfen. Acht dieser bulgarischen Bettler sollen zurzeit in der Stadt sein.

Nicht viele, aber genügend für einen Streit ums Prinzip.

Einen Streit darüber, wer in der Hansestadt betteln darf. Auf den ersten Blick eine einfach zu klärende Angelegenheit, in der es darum geht, ob hier Krüppel von Hintermännern missbraucht werden. Das zumindest sagen die Politiker des Bezirks Mitte, der auf komplizierten bürokratischen Wegen versucht, ein Bettelverbot gegen sie auszusprechen. Aber es ist keine einfache Angelegenheit, nicht in einer Stadt, in der die organisierten Geschäftsleute vor einem halben Jahr versucht haben, ein grundsätzliches Bettelverbot durchzusetzen. Nicht in einer Zeit, in der die Abgrenzung zwischen Arm und Reich im öffentlichen Raum mit neuem Nachdruck gezogen wird, in der Städte wie Kiel und Stuttgart ein solches generelles Verbot erlassen haben und andere ihre Einkaufsstraßen von störenden Bittstellern freihalten lassen.

In einem verwinkelten Klinkerbau in der Innenstadt sitzt die Redaktion des Hamburger Straßenmagazins Hinz&Kunzt, das von Obdachlosen verkauft wird. Am Eingang steht ein tätowierter Mann hinterm Tresen und schenkt Kaffee aus, während die Verkäufer auf ihre Zeitungsexemplare warten. Es ist ein freundlicher Ort und Chefredakteurin Birgit Müller ist eine freundliche Frau, was zum Erfolg ihrer Kampagne gegen das Bettelverbot beigetragen haben mag.

Anfang des Jahres hatte Hamburgs Innensenator, der Parteilose Udo Nagel, vorgeschlagen, während der Fußball-WM Einkaufsstraßen in der Innenstadt für Bettler zu sperren, fand jedoch im Senat keine Unterstützung dafür. Viele Hamburger Prominente und Nicht-Prominente unterschrieben damals eine „Rote Karte“ gegen das Bettelverbot. Die Stadt habe „eine liberale Tradition“, sagt Stephan Karrenbauer, Hamburger und Sozialarbeiter bei Hinz&Kunzt. Doch die Geschäftsleute, sagt Karrenbauer, kämen mittlerweile aus anderen Städten, seien es nicht gewohnt, dass Obdachlose am Eingang ihrer Filiale schlafen dürften und übten deshalb Druck auf die Politik aus, die Obdachlosen und Bettler zu vertreiben.

Derzeit geht es nur noch um die bulgarischen Bettler. Die Leute von Hinz&Kunzt finden es befremdlich, dass die Geschäftsleute und Politiker nun zwischen „unseren Bettlern“ und den Bulgaren unterscheiden. „Die Wirtschaftsleute haben gesagt, dass wir uns an die Globalisierung gewöhnen müssten“, meint Karrenbauer. „Aber auch die Armut ist global.“ Und setzt noch hinterher: „Das ist natürlich unser Mittelstandsdenken.“

Einige der Hinz&Kunzt-Verkäufer fanden sich anfangs nicht ab mit der globalisierten Armut. Es kam zu Messerdrohungen gegen die bulgarische Konkurrenz. Sie fühlten sich bedrängt an ihren gewohnten Verkaufsstellen – und vielleicht hat es sie auch empört, dass, während sie mühsam versuchten, die Zeitung abzusetzen, die Neuankömmlinge einfach nur dasaßen und jammerten. „Mich persönlich regt das auch auf“, sagt Stephan Karrenbauer und ahmt das Klagen nach: „Bitte, Bitte“, mit einem ganz langgezogenen „i“, so dass es wie „biete, biete“, klingt.

„Man muss auch auf der Straße Regeln finden“, sagt Birgit Müller. Aber nachdem die Zahl der bulgarischen Bettler immer weiter abnahm, habe sich die Frage nach einer solchen Regelung erst einmal erübrigt.

Als man in der Stadt merkte, dass eine neue Gruppe von Bettlern angekommen war, machten sich Karrenbauer und Müller auf den Weg, um zu sehen, ob die Neuankömmlinge Hilfe brauchten. Karrenbauer hatte einen Fragebogen dabei, um den Gesundheitszustand und die Situation der Bettler einzuschätzen. Aber er kam nicht weit: Gerade mal drei von ihnen traf er an, und von denen sprach keiner Deutsch oder Englisch. Immerhin schienen sie ihm grundsätzlich gut versorgt zu sein. Chefredakteurin Müller ging mit Martin Illert, dem Pastor der St. Jakobuskirche los, der eine Zeitlang in Bulgarien gelebt hat und mit einer Bulgarin verheiratet ist.

Illert wartet im Kirchencafé, wo Herren im Anzug ihren Mittagskaffee vor einem kleinen Text an der Wand trinken. „Es ist Zeit für die Auferstehung“, steht da. „Zeit, den Aufstand zu wagen gegen alles, was das Leben bedroht.“ Der Pastor erinnert sich gut an die Begegnung mit Dimitâr, dessen Name von „Demetrios, dem orthodoxen Heiligen“ abgeleitet ist. Er saß auf dem Pflaster der belebten Mönckebergstraße. Als Müller und Illert ihn ansprachen, kam sofort ein Aufpasser angelaufen. Dimitâr sprach mit dem Mann in seiner Sprache, der der bulgarischen Roma. „In meiner Naivität habe ich mir viel davon versprochen, dass ich Bulgarisch spreche“, sagt Illert. „Aber für ihn war es genauso eine Fremdsprache.“

Birgit Müller gab Dimitâr zehn Euro für den Verdienstausfall während des Gesprächs und holte Kaffee, aber er blieb wortkarg. Er sagte kaum etwas über den Prozess, der gerade gegen seinen bulgarischen Landsmann läuft. Dieser hatte ihn zum Betteln nach Deutschland geholt, aber ihm, anders als vereinbart, nicht die Hälfte des Geldes abgegeben und ihn unter ärmlichsten Bedingungen untergebracht. Nur eines betonte Dimitâr: Er arbeite jetzt auf eigene Rechnung.

Später hat Pastor Illert noch einmal mit dem Seelsorger der Hamburger City das Gespräch mit einem der bulgarischen Bettler gesucht. Aber der wollte wenig wissen von den Angeboten der Diakonie. „Ich hatte den Eindruck, dass wir ihn aus seiner Perspektive damit hinters Licht führten“, sagt Illert, „weil wir ihm seine Erwerbsmöglichkeit genommen hätten.“

Der Pastor tut sich schwer, das Land Bulgarien zu bezichtigen. „Aber es sind wirklich Ghettos“, sagt er. Die Roma seien die Gruppe mit dem geringsten Sozialprestige in dem Land. „Und sie haben kaum eine Chance, anders zu leben, als sie es derzeit tun.“ Er weiß, dass die Bulgaren in Deutschland den Umgang mit den Bettlern nicht für fortschrittlich halten – sondern für naiv und hilflos. Dass einige Bulgaren behaupten, die Eltern brächten ihren Kindern die Verletzungen willkürlich zu, um mit ihnen Geld verdienen. Aber ihn beschleicht das ungute Gefühl, dass man hier in Deutschland im Begriff sei, die gleichen Mauern zu ziehen, wie sie die bulgarischen Ghettos umgeben. „Dass es uns das Wichtigste ist, dass wir sie nicht sehen.“

Wenn man die Diskussion um die bulgarischen Bettler nüchtern betrachtet, ist das Überraschende daran weniger, welche Argumente darin auftauchen. Sondern wer sie benutzt und wo sie sich überlappen. Dass verschiedene Leute von sich sagen, sie wollten Verantwortung übernehmen und dann gegensätzliche Ideen vorbringen.

Da gibt es die sozusagen numerische Fraktion: Für sie gibt es wegen der geringen Zahl von Bettlern gar kein Problem. Das ist die Linie des Hamburger Senats gegenüber einem generellen Bettelverbot. Auch für Markus Knudsen von der „Roma und Cinti Union“ scheinen die bulgarischen Bettler keine dringende Frage zu sein.

1993, als eine größere Zahl von rumänischen Roma-Frauen mit ihren Kindern in den Fußgängerzonen bettelten und sich die Hamburger fragten, ob die Kinder womöglich betäubt seien, hat der Senat eine Beratungsstelle einrichten lassen. Mit deren Hilfe haben die Frauen Asylanträge gestellt, nach deren Ablehnung die meisten abgeschoben wurden. Die bulgarischen Bettler scheinen die „Union“ weniger zu beschäftigen. Wahrscheinlich sind es einfach zu wenige, denn Markus Knudsen spricht statt dessen von den 37.000 Roma in Hamburg, um die sich ein einziger Sozialarbeiter kümmern müsse. „Es scheint, als würden die Bettler als Werkzeug von Nicht-Roma benutzt“, sagt er. Und: „Wenn die Leute Hilfe brauchen, kommen sie von selber.“

Statt dessen treten in der City die Kontaktpolizisten an die bulgarischen Bettler heran und fragen, ob sie Hilfe bräuchten. Sie versuchen herauszufinden, ob sie von Hintermännern ausgenutzt werden. Dass sie nicht selbständig kommen können, ist zumindest bei denen trostlos offenkundig, die auf Holzbrettern mit angeschraubten Rädern sitzen. Birgit Müller und Stephan Karrenbauer lachen ein bisschen über die abschreckende Wirkung der polizeilichen Fürsorge. „Die Polizisten und Sozialarbeiter fragen immer: Wie geht’s? Das nervt natürlich.“ Einmal hat das Ordnungsamt eine Hoteletage schließen lassen, auf der bulgarische Bettler in einem fensterlosen Raum zusammengepfercht waren. Es gebe keine Organisation hinter ihnen, behaupteten die Bettler damals, sie seien ein großer Clan. Bei Hinz&Kunzt zweifelt das niemand an. Zumindest nicht, solange es keine klaren Gegenbeweise gibt. „Auch wenn es manchmal unbequem ist, ein Rechtsstaat zu sein – wir sind keine Bananenrepublik“, sagt Stephan Karrenbauer mit Nachdruck.

Für Markus Schreiber, den Bezirksamtsleiter von Hamburg Mitte ist das weniger Respekt vor dem Rechtsstaat denn Gleichgültigkeit. Schreiber ist SPD-Mann, Sohn eines Pastors und im Bettlerstreit ein Verfechter des Prinzipiellen. „Es geht um eine moralische Fragestellung“, sagt er. „In Hamburg muss niemand auf einem Holzbrett durch die Stadt gezogen werden.“ Kürzlich rief ihn ein bulgarischer Fernsehsender an: Man sage in Bulgarien, dass hier viel Geld zu verdienen sei. „Früher hat man mit Zwergen geworfen“, sagt Markus Schreiber, aber er sei nicht gewillt, hinzunehmen, dass jetzt in seinem Bezirk mit Behinderten Geschäfte gemacht würden. „Damit löst man das Problem nicht weltweit“, sagt Schreiber. „Aber ich bin für Hamburg Mitte zuständig, nicht für Bulgarien.“ Deshalb hat er die Mitarbeiter des Ordnungsamtes jetzt angewiesen, Belege dafür zu sammeln, dass die bulgarischen Bettler organisiert und gewerbsmäßig betteln. Für Markus Schreiber ist das der einfachste Weg. Und der richtige. „In zehn Tagen“, sagt er, „werden wir einen Strich darunter ziehen.“