AN DER ROTEN AMPEL
: Starr vor Pein

Warum hupt keiner im sonst so ruppigen Morgenverkehr?

Kurz vorm Alex. Die Ampel steht auf Rot. Ich stiere auf meinem Rad vor mich hin, überlege, was heute auf Arbeit anstehen könnte, da reißt jemand neben mir die Autotür auf. Ein schlaksiger Typ Mitte dreißig steigt aus einem älteren 7er-BMW. Er ist wild entschlossen. Aber wozu? Will er schnell das Handy aus der Tasche im Kofferraum ziehen? Was zu essen holen von der Rückbank? Nee. Er zerrt seine kleine blonde Tochter aus dem Kindersitz.

Das Mädchen plärrt. Der Vater auch. Er ist erregt, aber nicht wirklich außer sich: „Mir reicht’s. Du bleibst hier“, sagt er. Das Kind wird auf den Bürgersteig getragen. „Willst du hier bleiben? Du bleibst hier, wenn du nicht aufhörst“, sagt der Vater zum Kind. „Willst du hier bleiben?“ Die Ampel: noch immer rot. Im BMW sitzt ein zweites Kind, das keinen Mucks macht, und die Großmutter. Die schaut betreten, ist starr vor Pein. Alle drum herum schauen abwechselnd auf den BMW und den Vater. Wer gewinnt das Duell? Der Vater, der mitten im Berufsverkehr alles auf eine Karte setzt. Oder das Kind, das einfach nur weiterschreien müsste, um zu triumphieren?

Die Mollstraße wird zur Bühne. Waren die Beobachter anfänglich noch irritiert, manche sogar entsetzt, so sieht man jetzt bei manchen ein wissendes Lächeln – die Empathie der Leidensgenossen. Auch ich lächle. Die Ampel ist noch immer rot. Das Kind scheint sich zu beruhigen. Es wimmert nur noch, hat sich wohl ergeben.

Jetzt: grün. Der BMW blockiert die Rechtsabbiegespur, aber niemand hupt. Nicht einer. Warum hupt keiner im sonst so ruppigen Morgenverkehr? Sitzen da alles gestresste Väter hinterm Steuer, die zwischen sechs und acht am Morgen etwas Ähnliches erlebt haben, wenngleich auch nicht so öffentlich? Liegt es an dem Typen, der, denke ich mir, vielleicht eine Eigentumswohnung im Bötzow-Viertel hat? Keiner hupt. Ich kann es nicht fassen. Ist das noch Berlin? MARKUS VÖLKER