Die Schuhe der Friseurin

Vom Überleben in der Krise

SABINE REINER

Die Zeiten, als darüber gewitzelt wurde, wie krumm eine Gurke sein darf, sind lang vorbei. Damals war die Welt in Europa noch ziemlich in Ordnung. Bürokratischer Übereifer schien das größte Problem.

Das, was Europa heute an Vorschriften und Pakten in immer kürzeren Zeitabständen übergestülpt wird, bewegt sich in einer völlig anderen Dimension als Vereinheitlichungsversuche durch übereifrige Bürokratie. Ganz Europa soll auf marktkonform dressiert werden.

Und Kanzlerin Angela Merkel lässt nicht locker. Sie will ein Protokoll der europäischen Verträge „ergänzen“. Damit soll die EU-Kommission noch mehr Kontroll- und Einspruchsrechte bei „Strukturreformen“ bekommen. Mit jedem einzelnen Nationalstaat sollen verbindliche Vereinbarungen zur Herstellung von mehr Wettbewerbsfähigkeit getroffen werden. Als Lockmittel stellt sie Geld für den Ausgleich sozialer Härten in Aussicht. Für die Zerschlagung von Tarifvertragssystemen winken künftig also EU-Mittel.

Aus der Zeit gefallen wirkt da, wie eine geplante neue Richtlinie auf höchster Ebene mit dem alten Bürokratie-Argument der Lächerlichkeit preisgegeben wird: „Ich habe allen nötigen Respekt für Sorgen um die gesundheitlichen Bedingungen am Arbeitsplatz“, sagte EU-Kommissionspräsident Manuel Barroso im Tagesschau-Interview. „Aber nicht alles muss auf europäischer Ebene getan werden. Warum braucht es eine europäische Regulierung für da Schuhwerk von Friseurinnen?“

Worum geht es? Im Rahmen des sozialen Dialogs hatten Arbeitgeber und Gewerkschaften aus dem Friseurgewerbe eine Vereinbarung zum Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz verabschiedet. In manchen Ländern leiden 70 Prozent der Friseur/innen irgendwann im Berufsleben an Hautkrankheiten, zehn mal häufiger als Beschäftigte in anderen Berufen. Fast 40 Prozent klagen über Muskel-Skelett-Erkrankungen, fünf mal mehr als andere. Bisher hat die EU-Kommission auf Wunsch der Sozialpartner solche Vereinbarungen dem Rat vorgelegt, der sie als Richtlinie verabschiedete.

Erstmals haben nun aber die deutsche und zahlreiche andere Regierungen in einem Brief gefordert, dies nicht zu tun. Mit Erfolg. Jetzt sollen erst einmal Kosten und Nutzen abgeschätzt werden. Die Kommission prüft derzeit auch generell, welche Rechtsvorschriften vereinfacht oder ganz aufgehoben gehören – insbesondere beim Arbeitsschutz. Auf Eis liegen Richtlinienvorschläge zu Bildschirmarbeit, Passivrauchen oder krebserregenden und erbgutverändernden Gefahren am Arbeitsplatz. REFIT (Regulatory Fitness and Performance) heißt das Programm. Die Kommission holt offenbar zum Rundumschlag aus, will Unternehmen von ihnen nicht genehmen Auflagen befreien und den Weg frei machen für die Absenkung bisher erreichter Standards.

■ Die 1962 geborene Autorin ist promovierte Politikwissenschaftlerin und Volkswirtin. Sie leitet den Bereich Wirtschaftspolitik beim Bundesvorstand der Gewerkschaft Ver.di. 2004 war sie Gründungsmitglied von Intervention – Europäische Zeitschrift für Ökonomie und Wirtschaftspolitik.

■ An dieser Stelle wechseln sich wöchentlich unter anderem ab: Rudolf Hickel, Eric Bonse, Ulrike Guérot, Ulrike Herrmann und Jens Berger.

Die alte Bürokratie-Debatte über die neue Arbeitsschutz-Richtlinie für Friseur/innen und über REFIT ist also ganz und gar nicht aus der Zeit gefallen. Die Rahmenrichtlinien waren bisher Referenzen für nationale Regelungen zum Arbeitsschutz und für die Harmonisierung der Arbeitsbedingungen auf hohem Niveau. Doch es ist einfach nicht marktkonform, wenn „bürokratische Zwangsmaßnahmen“ etwa die Gefahr von Hautkrankheiten bei FriseurInnen reduzieren sollen.

Wenn PolitikerInnen verhindern wollen, dass sich die Menschen in Europa von Europawahlen gar nichts mehr versprechen, müssen sie Schutzvorschriften und dem sozialen Dialog eine Zukunft geben. Ein gewerkschaftsfreundliches Europaparlament kann die Kommission davon abhalten, die Arbeitsschutzregeln abzurasieren.