Das Hier ist Oldenburg, wo denn sonst?

Nebenstelle (2): Vom Leben und Schreiben in der norddeutschen Provinz. Der Schriftsteller Klaus Modick über das Leben als Stadtgoethe, den großen Schatten von Dieter Bohlen und die höchste Buchhändlerdichte Deutschlands

1. Meine Großmutter zückte ihren schwarz-grün gestreiften Füller mit der breiten Goldfeder und hieb in ihrer energischen Handschrift die Adresse aufs Couvert. „Und nun trag mir den Brief mal schnell zum Kasten, bevor er geleert wird.“ Das tat ich gern. Dafür gab‘s nämlich zwei bis drei Turm-Sahnebonbons, und zwar die dicken für zwei Pfennig das Stück. Lesen konnte ich auch schon, was auf dem Couvert klebte und stand: 5-Pfennig-Briefmarke mit Papa Heuss. Name, Straße und Hausnummer. Und Hier. Hier fett unterstrichen. „Wo ist denn hier?“ fragte ich. „Oldenburg“, sagte meine Großmutter, ausgesprochen: Ollnburch, „wo denn sonst?“

Dumme Frage ja eigentlich. Hier ist, wo wir sind. Und zwar, meine Großmutter zeigte auf den eingerahmten Bürgerbrief an der Wand, schon lange. Seit 1758. Klare Sache also, das Hier. Und ab in den Kasten. An Stelle der Stadt, die der Brief nicht verlassen würde, an Stelle einer heutzutage nach Zustellbezirken logistisch ausdifferenzierten Postleitzahl, die man nun schon für die nähere Nachbarschaft nicht mehr kennt, reichte in den 50er Jahren noch das Hier. Und Hier war Oldenburg. Was sonst? Wo sonst?

Jenes knappe Hier meiner Großmutter, das auch das Hier meiner Kindheit war, gibt es schon lange nicht mehr. Es ist verschwunden – und zwar nicht nur von den Briefcouverts. Denn jenes Hier war viel mehr als ein Adressenkürzel. Es war die selbstbewußte und selbstverständliche Identifikation des Oldenburgers mit seiner Stadt und seinen Bewohnern. Im Wörtchen Hier steckte eine Wahrnehmung des Unverwechselbaren, ein Wissen und ein Blick für Eigenarten und fürs Sonderbare, fürs, ja doch: Typische, für einen Menschenschlag, den die Stadt herausbildete und der seinerseits die Stadt prägte. Damals hatte es dieser Blick freilich auch leichter, durchzudringen, weil Unterschiede und Gemeinsamkeiten ausgeprägter, kenntlicher waren, offensichtlicher eben. So manchem Zeitgenossen war noch an Habitus und Kleidung abzulesen, an seiner Sprache zumal und, bei altgedienter Welt- und Menschenkenntnis wie der meiner Großmutter, manchmal sogar an der Nasenspitze, sprich: Physiognomie, wess‘ Geistes oder Berufes, welcher Herkunft oder Region Kind er war. Das Typische hat sich nivelliert, Eigenarten verschwimmen zu Multi-Kulti, Idiome verschleifen sich, die groben Unterschiede werden bis zur globalen Unkenntlichkeit fein. An Garderoben und Frisuren läßt sich jedenfalls nicht mehr festmachen, ob man‘s mit Bankangestelltem oder Künstler zu tun hat, am Zungenschlag kaum noch, ob einer zugereist oder gebürtig ist.

2. Vor zwei Jahren berichtete meine damals 17-jährige Tochter Emily, in der Schule sei nach überregional bekannten Künstlern und Intellektuellen gefragt worden, die aus Oldenburg stammen. Nach langem Grübeln und der Eselsbrücke „Museum“ sei endlich der Name Horst Janssen gefallen, der zwar gar nicht in Oldenburg geboren wurde, aber hier immerhin aufwuchs und es schließlich sogar zu Ehrenbürgerschaft und jenem nach ihm benannten Museum brachte. Und sonst? Erneutes, schweigendes Grübeln. Ob denn niemand auf Johann Friedrich Herbart und Karl Jaspers gekommen sei?, erkundigte ich mich. Immerhin bedeutende Philosophen. „Nö“, sagte Emily. Oder auf den Fußballtorwart Jörg Butt? Immerhin ein Ballkünstler. Oder auf Ulrike Meinhof? Immerhin und trotz alledem eine Intellektuelle. Oder den Satiriker Bernd Eilert? Immerhin ein Gründungsmitglied der Neuen Frankfurter Schule.

„Nö. Aber Judith und Mel“, sagte Emily. „Diese Volksmusikgruftis. Und natürlich Dieter Bohlen.“ Natürlich! Dieter Bohlen! Vermutlich der prominenteste „Künstler“, den Oldenburg je hervorgebracht hat. Die Lehrerin habe nachgefasst, wie‘s denn mit der Literatur sei, und dabei Emily insistierend fixiert. Eine Klassenkameradin habe dann schließlich meinen Namen genannt. Wohl mit gedachtem Fragezeichen. Das sei Emily „krass peinlich“ gewesen. Und das konnte ich ihr nachfühlen – aber immerhin: In Oldenburg bin ich wohl Goethe, wenn auch im schweren Schatten Dieter Bohlens. Mein Schiller ist übrigens im letzten Jahr zugezogen, und zwar in Gestalt des Schriftstellers Jochen Schimmang. Ihm gefällt, was auch mir hier gefällt: Die freundliche, doch unverschnarchte Provinzialität einer – ja doch – Großstadt (160.000 Einwohner) mit Universität, Staatstheater, der prozentual höchsten Buchhändlerdichte Deutschlands, einer vom Krieg verschonten, architektonischen Infrastruktur, die auch von notorisch fortschrittsbekloppten Verkehrs- und Stadtplanern nur mühsam zu ruinieren ist, und nicht zuletzt das moderate Niveau der Lebenshaltungskosten.

3. Ich bin hier geboren und aufgewachsen und nach 30 Jahren im Anderswo wieder hier gelandet, nicht aus nostalgischer Neigung oder Heimweh, sondern eher zufällig. Ich habe 18 Jahre in Hamburg gelebt, ein Jahr in Rom, ein Jahr in Paris und insgesamt vier Jahre in den USA. Zurückkehren kann man ja nur, wenn man weg war, nach Hause kommen kann nur, wer das Fremde kennt. Lebenslänglich hätte ich es hier nie ausgehalten, aber als Heimathafen bietet Oldenburg angenehme, windstille Ankerplätze.