ROBIN ALEXANDER über SCHICKSAL
: Brrrrrrrrrrrrrm! Brrrrrrrrrm!

Mein Nachbar hält die Hausordnung ein: Er bohrt nur zwischen 9.00 und 17.00 Uhr

Da. Jetzt bohrt er wieder. Mein Nachbar schon seit neun Uhr morgens. Er bohrt jeden Tag. Ich weiß das, denn ich bin im Moment viel zu Hause. Mein Nachbar leider auch. Und er bohrt.

Wie ich das ertrage? „Man gewöhnt sich an allet“, pflegte der Nachbar meiner Oma zu sagen, der noch „im Pütt“ gearbeitet hatte. Unter Tage hatten sie verdammt große Bohrer und verdammt viel Lärm. „Ach, dat hör’ se irgendwann gar nicht mehr“, tat er ab. „Halb so wild.“ Seine Frau goss ihm die Kaffeetasse immer nur zu zwei Dritteln voll, weil er so zitterte, bis er mit 62 Jahren starb.

Aber er hatte Recht. Mein Sohn, der sein erstes Lebensjahr in der Wohnung mit dem bohrenden Nachbarn verbrachte, denkt schon, das ist normal: Morgens gibt es Frühstück. Mittags Gläschen. Abends Brote. Und dazwischen wird gebohrt. Als wir einmal eine Woche verreist waren, beobachtete ich, wie ihn die Ruhe nervös machte.

Was mich und meine Freundin nervös macht, ist nicht mehr der Lärm, sondern die Frage: Was zum Teufel bohrt der da den ganzen Tag? Befestigt er Regale? Bringt er Lampen an oder schwere Kronleuchter? Oder komplizierte Vorrichtungen, die das eheliche Sexualleben interessanter machen sollen? Hängt er alles auf und überlegt erst dann, ob es ihm überhaupt gefällt? Die Recherche ist schwierig: Es handelt sich um einen Nachbarn aus dem Nebenhaus. Ich kann ihm also nicht auf der Treppe auflauern. Mit dem Vermieter kann man ihm auch nicht auf die Pelle rücken: Unser bohrender Nachbar hält sich zudem peinlichst an die von der Hausordnung und der guten Sitte vorgeschriebenen Bohrzeiten: Er bohrt nicht vor neun Uhr morgens und nicht zwischen eins und drei. Und um Punkt fünf Uhr nachmittags lässt er den Bohrer fallen.

Ich entschließe mich, seinen Hauseingang vom gegenüberliegenden Spielplatz aus zu observieren. Drei Tage lang, von morgens bis abends. Resultat: Niemand betritt das Haus mit Brettern, Möbeln oder auffällig großen Pakten. Niemand verlässt es mit Arbeitshandschuhen oder Blaumann oder auch nur Staub auf der Hose. Als sie meinem Sohn das letzte Schüppchen geklaut hatten, weil ich statt in den Sandkasten zum Nachbarhaus gekuckt hatte, breche ich die Observation ab.

Wir hören jetzt den ganzen Tag laut Radio. Wir gehen nicht weit vom Kind weg, damit wir hören, wenn es schreit. Wir sind viel draußen. Der Nachbar bohrt.

Irgendwann muss er doch fertig werden! Mein Schwager ist Mathematiker. Mit seiner Hilfe versuche ich auszurechnen, wann. Wir nehmen an, ein Bohrloch ist einen Quadratzentimeter groß. Eine 90 Quadratmeter Altbauwohnung mit sechs Zwischenwänden stellt abzüglich Türen und Fenster eine Gesamtbohrfläche von 330 Quadratmetern. Der Nachbar kann also (unter Vernachlässigung der Statik) maximal 3,3 Millionen Löcher bohren. Weiter angenommen, es dauert fünf Minuten, ein anständiges Loch in die Wand zu bohren: Schon nach 2.291 Monaten und 3 Wochen wäre er fertig. Das sind nicht ganz 191 Jahre.

– „Aber dann ist er definitiv fertig?“, frage ich.

– „Statistisch gesehen schon“, sagt mein Schwager.

– „Statistisch?“, frage ich.

– „Tja, statistisch hätte er auch schon vor Wochen eine Stromleitung treffen müssen“, gibt mein Schwager zu bedenken.

Der Nachbar bohrt weiter. Die Tage vergehen. Eines Nachts weckt mich meine Freundin und redet auf mich ein: „Ich weiß es! Es geht gar nicht um die Löcher. Es geht um die Bohrer!“

– „Bitte?“

– „Er testet Bohrer. Bestimmt: Das ist es. Er arbeitet als Bohrmaschinentester.“

– „Zu Hause?“

– „Die Bohrmaschinenindustrie hat bestimmt outgesourct und lässt ihre Bohrer jetzt von nichtsozialversicherungspflichtigen Ich-AGs testen, von so genannten Free-Bohrern!“

– „Weib, du redest wirr!“, tat ich ihren halb geträumten Einfall ab.

Aber am nächsten Morgen, die Sonne scheint, die Bohrmaschine summt, denke ich, da könnte doch etwas dran sein. In einer Gesellschaft, in der es mehr Baumärkte als Kneipen gibt und wo der Terrorspruch „Es gibt immer was zu tun“ ein Werbespruch ist, sollte man auf alles gefasst sein.

Tock, tock, tock? kolumne@taz.de Montag: Susanne Lang und DIE ANDEREN