Beherzter Griff ins Klo

Zwischen Suspense und billigen Scherzen: Wenn auf der Kinoleinwand ein Psychoanalytiker erscheint, geht es um das Unaussprechliche. Bloß: Was ist das? Und was sagt es uns?

von REINHARD KRAUSE

Patientin während der Gruppentherapie: „Ich bin schon seit zehn Monaten hier, und Sie haben sich meine Komplexe noch nicht einmal vorgenommen.“ Psychoanalytiker: „Vielleicht haben Sie die Freundlichkeit, uns zu verraten, um welche Komplexe es sich handelt?“ Patientin: „Nein, das kann ich nicht, das ist zu unanständig.“ (Szene aus „Was gibt’s Neues, Pussy?“, 1965)

Das Unaussprechliche – und um nichts anderes geht es doch, wenn ein Psychoanalytiker auf der Leinwand erscheint – macht nicht nur dem Patienten, sondern auch dem Film zu schaffen. Und verrät die Verdrängungen und Verklemmtheiten seiner Entstehungszeit, ob es sich nun um einen Thriller handelt oder eine Parodie.

Wenn eine Schulpsychologin einem frustrierten Teenager rät: „Komm wieder, wenn du schwanger bist“, wenn ein Psychoanalytiker einem neuen Patienten zuraunt :„Die Gruppenanalyse ist hochinteressant, die reinste Abnormitätenschau“, oder wenn ein Team erstklassiger Psychiater zu einer Hirnoperation ansetzt – dann kann man nur hoffen, in einem Film zu sein. Die Erforschung seelischer Abgründe nach Freud mag – Zufall oder nicht – so alt sein wie das Kino der Brüder Lumière, doch dem Kicheralter ist der Film noch nicht entwachsen, wenn es um Bilder psychoanalytischer Praxis geht.

In „Was gibt’s Neues, Pussy?“ (Drehbuch: Woody Allen) spielt Peter Sellers den höchst exzentrischen Dr. Nikita Fedja Iwan Popowitsch, im US-Original Fritz Wolfgang Sigismund Fassbender. (Seine sehr teutonische Gattin heißt in beiden Fassungen Anna.) Lieblingsbeschäftigung des Analytikers ist es, aus den Offenbarungen seiner Patienten erotisches Kapital zu schlagen. Auf die Schilderung des komplizierten Liebeslebens eines neuen Kunden (Peter O’Toole) entfährt es ihm: „Soll ich Ihnen mal erzählen, was ich in einem lettischen Bordell erlebt habe?“

Nicht nur der Psychoanalytiker, nein, der Mensch an sich, möchte man nach dem tumultuarischen Finale des Films sagen, ist polymorph pervers. Die Orgie allerdings, auf die alles Triebleben hier zusteuert, ist von kompletter Harmlosigkeit. Das „Unanständige“, die sexuelle Revolution der Sixties? Viel Buhei.

Den großartigsten Satz des ganzen Films darf die elegante Nymphomanin Madame Lefebvre (Capucine) sagen: „Nur weil ich offen über all meine Probleme spreche, darf er mich doch nicht behandeln wie ein flottes Flittchen.“ Ein Triumph der (Verhandlungs-)Moral über die Verklemmtheit.

Norman Bates zeigt das Motelzimmer. „Und hier ist … Sie wissen ja.“ Marion Crane: „Das Badezimmer.“ Norman Bates: „Ja.“ (Szene aus „Psycho“, 1960)

Lila, die Schwester der verschwundenen Marion Crane, hat den richtigen Riecher: Beherzt greift sie in die Toilettenschüssel des Motelzimmers und befördert einen Fetzen beschriebenen Papiers zutage, ein wichtiges Beweisstück in Alfred Hitchcocks „Psycho“. Ein paar angstbesetzte Szenen später wird sie auch noch die sprichwörtliche Leiche im Keller von Norman Bates entdecken: seine mumifizierte Mutter.

Nie zuvor war in einem Hollywoodfilm ein Sanitärbecken zu sehen gewesen, dann kam „Psycho“. Manchem Kinokritiker allerdings erschien der ganze Film damals als Griff ins Klo. Eine Dreiviertelstunde sieht man einer im Grunde biederen Sekretärin dabei zu, wie sie aus einer fatalen Eingebung heraus eine Unterschlagung begeht und fortan auf der Flucht zu ihrem Liebhaber ist. Anders als die üblichen blonden Hitchcock-Heroinen wird diese Miss Crane nicht einmal sonderlich sympathisch gezeichnet, vermutlich zum Schutze des Zuschauers: Denn auf die reuige Diebin wartet nach knapp fünfzig Minuten die legendärste Mordszene der Filmgeschichte, in ebenjenem Badezimmer. Fortan muss der Film ohne seine Hauptdarstellerin auskommen. (Janet Leigh erhielt für ihre Leistung als Marion Crane einen Golden Globe – als beste Nebendarstellerin!)

Jawohl, die Drastik der legendären Duschszene schockiert, die auf Affekt zielende und über Leichen gehende B-Film-Story. Doch was den Zuschauer bei „Psycho“ frustriert, ist der Auftritt des Psychiaters am Ende des Films. Was ein Heer an Kriminologen nie herausbekommen hätte, schüttelt er in einem fünfminütigen Quasi-Monolog aus dem Handgelenk: „In einem Menschen, der in zwei Persönlichkeiten gespalten ist, wird es immer einen Kampf geben zwischen den zwei Ichs. In Normans Fall ist der Kampf vorüber und die dominierende Persönlichkeit hat gewonnen.“ Ja, Bates hat seine Mutter in einer Art Urszene getötet, mit der Folge, dass er fortan als gespaltene Persönlichkeit weiterlebte – halb Mutter, halb Norman Bates – und weitermordete.

Der Zuschauer sitzt dem Psychiater ähnlich konsterniert gegenüber wie im Film die Schwester und der Geliebte der Ermordeten. Der allwissende Seelenkundler enthüllt viel mehr über den Täter, als wir reinen Herzens wissen mögen. Wir sollen verstehen, wie aus einem schüchternen jungen Mann eine mordende Furie im Kittelkleid werden kann. Doch so restlos diese „Aufklärung“ gelingt – es verwundert nicht, dass mancher Kinobesucher das Gefühl hatte, für einen raffinierten Krimi bezahlt und einen haarsträubenden Alien-Film bekommen zu haben. Wie zum Spott lässt Hitchcock einen der Sheriffs fragen: „Und die 40.000 Dollar? Wo sind die?“ Die wegwerfende Antwort: „Im Sumpf. Hier ging es um seelische Konflikte, nicht um Geld.“ Guter, böser Hitchcock.

Eine als „gefährlich“ charakterisierte Analysepatientin zu Beginn einer Sitzung: „Sie glauben doch nicht, was zu erreichen, wenn Sie sich das Geschwätz über meine langweilige Kindheit anhören? Was soll das?“ (Szene aus „Ich kämpfe um dich“, 1945)

1945 schuf Hitchcock mit „Ich kämpfe um dich“ den Klassiker des psychoanalytisch grundierten Thrillers. In ihm wimmelt es nur so von Seelenärzten. Die Geschichte ist, vom Ende her erzählt, noch abstruser als der Plot von „Psycho“: Ein kriegstraumatisierter Armeearzt wird Zeuge eines Mordes, was in ihm einen Schuldkomplex wachruft. Die Folge: Er verliert sein Gedächtnis – hat aber noch Geistesgegenwart genug, sich für den ermordeten Psychoanalytiker auszugeben und dessen neue Stelle anzutreten. Er gerät unter Mordverdacht, und nur die unerschütterlich liebende Dr. Constance Petersen rettet ihn vor der Hinrichtung.

„Ich kämpfe um dich“ ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert: Da sind die spektakulären Traumsequenzen, für die Salvador Dalí die Sets entwarf, da ist der junge Gregory Peck als homme fragile, der an der Seite von Ingrid Bergman von einer Ohnmacht in die nächste taumelt, und vor allem: da werden unentwegt Zweifel am Sinn der Psychoanalyse geweckt. Sind die Insassen von Green Manors gefährliche Kriminelle oder leiden sie tatsächlich nur an Schuldkomplexen? „Ich glaube nicht an Träume“, formuliert Gregory Peck einen weit verbreiteten Vorbehalt. „Dieses Freud’sche Zeug ist Unsinn.“ Der alte Dr. Brolov poltert daraufhin: „Sie wissen nicht einmal, woher Sie kommen und wohin Sie wollen, aber Freud ist Unsinn, das wissen Sie.“

Ähnlich absurd scheint ihm das unbegründbare Vertrauen seiner ehemaligen Schülerin in die Unschuld des Unbekannten. „Wir beide wissen, der Verstand einer verliebten Frau arbeitet auf der niedrigsten Stufe des Intellekts“, erklärt er ihr, ein Tiefschlag auch für das weibliche Publikum von 1945. Dr. Petersen kleinlaut: „Das Herz sieht oftmals tiefer.“ Filmische Ehrensache, dass das Herz schließlich Recht behält.

Hitchcock nutzt die Psychoanalyse als Variante des detektivischen „Who dunnit“. Ganz ernst genommen haben kann er sie indes nicht, sonst hätte er gewiss auf die eingangs erwähnte OP-Szene verzichtet, in der sich ein halbes Dutzend Psychoanalytiker anschickt, einen Patienten zu operieren – als sei der Sitz der Seele im Zweifelsfall auch örtlich lokalisierbar, im Hirn.

Alvy Singer spricht auf der Straße einen wildfremden älteren Mann an: „Wenn Sie und Ihre Frau im Bett sind, brauchen Sie dann irgendein künstliches Stimulans wie Marihuana?“ Der Mann: „Wir benutzen ein großes, vibrierendes Ei.“ (Szene aus „Der Stadtneurotiker“, 1977)

In Woody Allens „Der Stadtneurotiker“ wird unentwegt gequasselt, auch wenn das Geblubber bisweilen beträchtliches intellektuelles Niveau erreicht. Schuld daran sind nicht zuletzt die Einflüsterungen der Psychotherapeuten. Speziell der New Yorker Komiker Alvy Singer (Woody Allen) ist regelrecht fixiert auf seinen Analytiker, den er seit 15 Jahren aufsucht. Auch seine neue Flamme, die komplexbeladene Annie Hall (Diane Keaton), drängt er zur Analyse.

Gleich nach der ersten Sitzung bei der Therapeutin berichtet sie ihm, wie ihr einfiel, als Kind die Eltern beim Sex beobachtet zu haben, und dass sie, von Gefühlen übermannt, weinen musste. Alvy Singer ist regelrecht neidisch. „Dann“, fährt sie fort, „erwähnte sie Penisneid. Ist das ein Begriff für dich?“ – „Und ob. Ich bin ja einer der wenigen Männer, der darunter leidet.“

Zwölf Jahre nach „Was gibt’s Neues, Pussy?“ scheint das Reden über Sexualität keine Tabus mehr zu kennen. Im Gegenteil, Sex ist integraler Bestandteil des Lifestyle-Getues. „Sei nicht böse, dass es bei mir so lange gedauert hat“, entschuldigt sich eine flüchtige Bettbekanntschaft von Alvy bei der Zigarette danach. „Ach, nein“, entgegnet der, „wo denkst du hin. Ich hab mir nur beim Gähnen ein bisschen den Kiefer verrenkt.“ – „Sex mit dir ist wirklich ein kafkaeskes Erlebnis. Ich mein’ das als Kompliment.“ Nicht der Sex zählt mehr, es zählt das Referenzsystem, mit dem man über ihn zu reflektieren versteht. Schauderhafte Welt.

Die Allgegenwart der Analytiker ist so greifbar, dass es fast wie ein Regiefehler wirkt, dass Allen gegen Ende tatsächlich einen von ihnen ins Bild rückt. „Ich bezahle ihren Psychiater, sie macht Fortschritte, und ich hab immer mehr Schwierigkeiten“, resümiert Alvy seine scheiternde Beziehung. Ganz am Ende deutet sich zart ein Happy End an. Aber ob Annie auf Alvys Frage „Jetzt sag mal ganz ehrlich: Bin ich deine große Liebe?“ noch einmal so wunderbar einfach antworten wird: „Och, öh … nein“?

Mafiaboss Paul Vitti zu seinem Psychiater: „Bevor ich’s vergesse: Wenn wir uns unterhalten und Sie machen ’ne Schwuchtel aus mir, knall ich Sie ab.“ (Szene aus „Reine Nervensache“, 1999)

Ein Mafiaboss beim Psychiater? Eine kühne Filmidee! Erst recht, wenn Robert De Niro den seelenkranken Gangster gibt. Doch was sucht ein Schwerkrimineller zwischen verheulten Hausfrauen und ich-schwachen Jungmännern? Entlastung von Schuld? Nein, Paul Vitti hat nach der Ermordung eines „Familien“-Mitglieds plötzlich sehr nah am Wasser gebaut und leidet an erektiler Dysfunktion. Es gereicht dem Film zur Ehre, dass der anfangs schwer verängstigte Dr. Sobel seinem Patienten den einfachen Weg weist: Da gibt es Tabletten. Doch mit dieser Lösung wäre der Film nach zehn heiteren Minuten aus. Also muss Vitti geradezu „ganzheitlich“ und wenig glaubwürdig auf einer Therapie bestehen: „Das ist Schummeln. Man fängt mit Pillen an und irgendwann baut man sich ’ne Hydraulik ein. Einen Ständer kriegt man entweder rechtmäßig oder gar nicht.“

Es spricht für historischen Fortschritt, dass das Ständerproblem hier keinen Anlass für Zotigkeiten abgibt. Auch Vittis Begründung verrät Augenmaß: „Für Sie ist das keine Katastrophe, sehen Sie sich an! Aber wenn ich keinen hochbekomme, bin ich kein ganzer Mann. Ich lebe praktisch unter Raubtieren, Doktor. Raubtiere sind unheimlich schlau und sie wittern jede Schwäche.“

Die Furcht des Mafiabosses allerdings, per Therapie als „Schwuchtel“ zu enden, erinnert an „Ein Hauch von Nerz“. Der Doris-Day-Klassiker von 1962 ist vermutlich der einzige Film, in dem ein Patient sich auf die Couch legt mit den Worten: „Ah, hier fühle ich mich immer wohl.“ Kein Wunder, denn Dr. Gruber ist weniger an Seelenstrip interessiert als an handfesten Börseninformationen – die er allerdings für nicht mehr vertrauenswürdig hält, als er irrigerweise glaubt, sein Patient sei in seinen Chef verliebt.

Immerhin: Paul Vitti hält es nicht für komplett abwegig, dass in seinem tiefsten Inneren besagte Schwuchtel hocken könnte. Bloß nicht rauslassen! De Niro als Tunte, das wäre auch furchtbar.

Schulpsychologin Mrs. Cummings begrüßt die pubertierende Jan Brady in ihrer Praxis: „Also, Jan, was hast du für ein Problem? Schwangerschaft, Bulimie, suizidale Tendenzen?“ Jan Brady: „Nein, es ist wegen meiner blöden Brille.“ (Szene aus „Die Brady Family“, 1995)

Es gibt sie doch noch, die guten, alten Sorgen, die echten. Oder muss dafür wirklich erst eine in den grundlieben Siebzigern hängen gebliebene US-Suburb-Familie zu uns gebeamt werden?

Leute, sprecht mehr miteinander, rechtzeitig. Es lohnt sich.

REINHARD KRAUSE, 44, ist taz.mag-Redakteur