Bleibt nur das Jugendamt

In der kommenden Woche wird die Notunterkunft des Bremer Mädchenhauses geschlossen – nicht die erste im Norden. Für Mädchen, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind, wird es schwierig

aus Bremen Eiken Bruhn

Ein Jahr hatte Jacquelina gebraucht, bevor sie dem Vater sagen konnte, dass sie weg wollte von ihm. Als Fünfzehnjährige war sie zu ihm gezogen, zum geliebten Vater. Noch heute hängt sie an ihm. Er hat sie sexuell missbraucht. Wenn sie nur gewusst hätte, wohin, wäre sie schon früher ausgezogen. „Ich hatte Angst, dass er mich besuchen und überreden würde, wieder zu ihm zu ziehen. Ich hätte sofort ja gesagt“, erzählt die 23-Jährige, die nicht möchte, dass ihr richtiger Name in der Zeitung steht. Um ihren Vater zu schonen.

Sie redet nur deshalb mit Journalisten, weil die Zufluchtstätte geschlossen wird, bei der sie damals sofort nach dem Gespräch mit dem Vater aufgenommen wurde, ohne wenn und aber. Vom kommenden Freitag an soll es die „Kriseneinrichtung“ des Bremer Mädchenhauses nicht mehr geben, weil Bremen kein Geld mehr hat für Mädchen wie Jacquelina. Sechs Vollzeitstellen, eine Wohnung – zuviel Aufwand dafür, dass 73 Mädchen im vergangenen Jahr dort Unterschlupf fanden. Mehr als die Hälfte von ihnen hat sexuelle Gewalt erlebt. Zwar glaubt niemand in der Stadt, dass Mädchen weniger Probleme haben, seltener geschlagen oder sexuell missbraucht werden als früher – aber eine Notunterkunft nur für Mädchen? Das will man sich in diesen Tagen nicht mehr leisten.

Vielleicht wäre das anders, wenn Mädchen in Krisensituationen sich nicht nur die eigenen, sondern auch die Unterarme anderer Leute aufritzen würden, oder Schaufensterscheiben einwerfen würden, fragt Sabine Weber, Geschäftsführerin des Mädchenhauses. „Mädchen leiden still, die machen keinen Ärger.“

Dabei ist Bremen nur das jüngste Beispiel. In den vergangenen Jahren mussten Mädchenprojekte in ganz Deutschland ihre Notunterkünfte aus finanziellen Gründen aufgeben, die wenigen, die es noch gibt wie in Kiel, hangeln sich von Monat zu Monat. Das Problem ist überall dasselbe: Die Jugendämter zahlen nur für Plätze, die tatsächlich belegt sind, für die Lücken müssen die freien Träger selbst aufkommen, Wohnung und Mitarbeiterinnen bezahlen, auch bei niedriger Belegung. „Das ist, als wenn die Feuerwehr gewinnorientiert arbeiten müsste“, formuliert es eine Mitarbeiterin des Kieler Mädchenhauses. In Bremen wurde die Lage dadurch verschärft, dass die Jugendämter auf Weisung der Politik nur noch wenige Fälle anerkennen und auch die Dauer des Aufenthaltes begrenzen. Der Sparzwang, leider.

In Oldenburg haben Kommunalpolitiker schon vor drei Jahren das Einsparpotential bei den so genannten Inobhutnahmen entdeckt. Der Zufluchtstätte Runaway brach es das Genick. 50 Mädchen kamen durchschnittlich im Jahr, mal waren alle acht Plätze belegt, mal keiner. „Es gab keinen Bedarf mehr“, sagt dazu Christiane Maaß, Sprecherin der Kommune. Und: Es habe sich gezeigt, dass nach der Schließung von Runaway die gemischtgeschlechtliche Jugendschutzstelle der Stadt ausreiche. Belegen lässt sich diese These allerdings nicht. Zum einen führt niemand Buch darüber, wie viele Mädchen nicht um Hilfe gebeten haben, zum anderen kamen nach der Schließung von Runaway nicht mehr, sondern weniger Kinder in die staatliche Notunterkunft.

Auch in Bremen gibt es zwei andere Anlaufstellen, sogar eine nur für Mädchen. Doch es geht um mehr, als einfach ein Dach über dem Kopf zu haben. Für manche ist es wichtig, in Einzelfällen auch lebenswichtig, dass niemand weiß, wo das Dach ist. In Norddeutschland gibt es jetzt nur noch in Kiel und Hamburg anonyme Notunterkünfte. Von diesen profitieren vor allem diejenigen, die in den Augen ihrer Angehörigen die Familienehre verletzt haben. Um auf Nummer sicher zu gehen, werden diese Mädchen und jungen Frauen häufig von den Jugendämtern in andere Städte geschickt – bisher auch nach Bremen.

Jacquelina weiß nicht, ob ihr Vater versucht hat, sie zu finden. Sie ist sich aber sicher, dass sie sich nur deshalb aus der Situation befreien konnte, weil er keine Chance dazu hatte. In der Kriseneinrichtung habe sie sich erstmals nicht auf der Flucht gefühlt, sondern war froh, wenn sie in ihrem Zimmer war. „Ich fühlte mich zum ersten Mal irgendwo zu Hause.“

Eigentlich soll die Kriseneinrichtung nur eine Übergangslösung sein, doch Jacquelina blieb vier Monate. So lange brauchte sie, um aussprechen zu können, warum sie nicht mehr nach Hause wollte. Heute würde ihr nicht mehr so viel Zeit gegeben. Nach vier Wochen will das Bremer Jugendamt die Situation geklärt haben. Kann die Jugendliche im Idealfall wieder in die Familie zurück? Braucht sie eine Pflegefamilie oder eine betreute Wohngruppe? „Der Aufenthalt soll so kurz wie möglich sein“, bestätigt die Sprecherin der Stadt Oldenburg, Christiane Maaß, angepeilt würden ein paar Tage. Innerhalb dieser Zeit müssten die Mädchen so viel Vertrauen zu den Betreuerinnen gefasst haben, dass sie Angst und Schamgefühl überwinden und einen sexuellen Missbrauch eingestehen – so er ihnen denn bewusst ist. Wenn ihnen das nicht gelingt, kann es passieren, dass sie wieder nach Hause geschickt werden.

Oder sie werden wie in Oldenburg mit Jungs und jungen Männern in einer Wohnung untergebracht. Ein Problem, sagt Doris Beel von Runaway, weil Missbrauchsopfer häufig nicht wüssten, wo ihre Grenzen sind und wie sie diese behaupten können, sich im schlimmsten Fall sogar selbst anbieten. In Oldenburg sollen Übergriffe damit verhindert werden, das die Wohnung bei Bedarf geteilt wird. Das geschehe, wenn die Mitarbeiter bei Jugendlichen ein „sexuell auffälliges Verhalten“ feststellen, sagt Stadtsprecherin Maaß.

Jacquelina hatte gar nicht gewusst, dass es solche Orte überhaupt gibt. Ihr Vater habe am Abend die Telefonnummer des Mädchenhauses rausgesucht, sagt sie, nachdem sie es endlich geschafft hatte, „nein“ zu sagen. Am nächsten Tag zog sie aus.

In Oldenburg wäre das nicht so einfach gewesen. Die Sprecherin der Stadt verweist auf die Öffnungszeiten des Jugendamtes: Bis halb vier müsste ein Mädchen in Not sich zu dem Anruf durchringen. Nach halb vier müsste es sich an die Polizei wenden, die rund um die Uhr die städtische Kriseneinrichtung erreichen kann. „Das traut sich doch kaum ein Mädchen“, sagt Doris Beel, die Geschäftsführerin des Oldenburger Mädchenhauses. Aber auch mit dem Jugendamt hätten viele Mädchen schlechte Erfahrungen gemacht, sie hätten Angst davor, dass ihre Notlage aktenkundig wird, sie nicht mehr in ihre Familien zurück können, wenn sie einmal erzählt haben, was ihnen passiert ist. Und: Die Jugendamtsleute dürfen, anders als die Mädchenhausfrauen, nicht parteiliisch sein, sondern müssen allen Seiten Glauben schenken. „Dabei kann man die Eltern oft besser verstehen“, sagt Beel.

Jacquelina ist heute noch dankbar für die Hilfe, die sie damals im Mädchenhaus bekommen hat. Sie ist mit ihrem Freund gekommen, mit dem sie zusammen wohnt und dessen Hand sie während des Interviews nicht los lässt. „Ich hätte nie gedacht, dass ich mal so ein schönes Leben führen würde“, sagt sie. Und: „Ich weiß nicht, ob ich heute noch am Leben wäre.“