Dresden liebt die Vergangenheit

Seine Erwähnung 1206 gibt Dresden die Gewissheit, seit mindestens 800 Jahren zu existieren. Im Innersten aber ist die Stadt ihrer Identität unsicher

von MICHAEL BARTSCH

Dresden, das muss noch immer der wollüstigste Fürstenhof Europas sein, die vollkommene Kunststadt. Sie hat die Frauenkirche, eine Flussaue als Weltkulturerbe, die nettesten Einwohner und gilt neuerdings auch als Boomtown Ost. Unterhalb der Kategorien „Mythos“ oder mindestens „Weltspitze“ tritt die Stadt gar nicht erst an. „Dresden ist eine Weltanschauung“, behauptete Oberbürgermeister Ingolf Roßberg zur Eröffnung des 800-Jahr-Jubels. Deshalb der gute Rat, sich dieser Verkörperung aller Superlative so unbefangen wie möglich zu nähern und sich als Gast sein Dresden selbst zu erobern.

Mit dem Zug anzureisen schafft einen hilfreichen Ernüchterungseffekt. Wohl er-wischt einen bei der Einfahrt über die Marienbrücke die unvermeidliche Postkartenkulisse, der berühmte Blick des Malers Canaletto aus dem 18. Jahrhundert über die Elbe. Dem Hauptbahnhof entkommen, der seit mehr als 20 Jahren eine Baustelle ist, reibt man sich am Wiener Platz ungläubig die Augen: Das soll das berühmte Dresden sein? Die Einfalt mehrgeschossiger Betonbaracken aus den Zeiten der Stildiktatur lässt sich inzwischen an Simplizität noch weit übertreffen. Zu zwei Dritteln sieht eben auch Dresden aus wie alle anderen Städte. Stadtplaner und Architekten haben nach der Wende mit den Lückenbauten der Innenstadt alles dafür getan, die Stadt verwechselbarer erscheinen zu lassen. Halbwegs originelle Architektur wie das Rundkino an der Prager Straße wurde zugebaut, und nun soll auch noch das ehemalige Centrum-Warenhaus mit seiner Wabenfassade verschwinden.

Ein Buch zum Einstieg sei aber doch dem empfohlen, der etwas vom Trauma dieser Stadt begreifen und dem wahren Genius Loci umso tiefgehender auf die Spur kommen will. Der Band 84 der Dresdner Hefte, herausgegeben vom Dresdner Geschichtsverein, widmet sich dem „Mythos Dresden“. Nicht so, wie die gleichnamige Sonderausstellung im Hygienemuseum, die kein Klischee auslässt und nur im schriftstellerischen Begleittext ans Eingemachte geht. Leider ein Ausrutscher in dem sonst sehr empfehlenswerten Museumsbau. Dieses Dresdner Heft aber setzt sich in gebotener Selbstdistanz mit den Identitätskonstruktionen der Stadt auseinander, die vielleicht das wirklich Einzigartige an dieser teilweise imaginären Stadt sind.

Man muss einfach wissen, dass Dresden schon vor seiner Zerstörung trotz der Leistungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts immer die Trauerarbeit über das Ende der grandiosen Epoche Augusts des Starken zu bewältigen hatte. 1733 verstarb der Kurfürst, der viel von seiner Vision der Residenz als Gesamtkunstwerk, wie wir heute sagen würden, verwirklichen konnte. Dieser Verlust hat sich durch die Kriegszerstörung am 13. Februar 1945 ins Unermessliche, in einen Phantomschmerz hineingesteigert. Ohnehin konservativ-royalistisch prädisponiert, neigt der Dresdner Ureinwohner deshalb zu einer larmoyanten Retrospektive, ja zu einer Art Autismus, wenn es um die Heiligtümer seiner Stadt geht. Deshalb trifft man in Dresden so wenig architektonisch Neues an, empört sich eine Phalanx der Leserbriefschreiber über eine zugegeben monströse Zentralhaltestellenkonstruktion am Postplatz. Dort dienen historische Bauten als Folien für Rekonstruktionen und Attrappen. Auch die Frauenkirche ist eine solche. Alles muss in Dresden genau so werden, wie es einmal war. Am krassesten ist dies um die Frauenkirche herum am pseudohistorischen Neumarkt. Fassaden, denen man ihre Künstlichkeit sofort ansieht und hinter denen sich etwas ganz anderes abspielt. Überdies wird der gewaltige Kuppelbau wieder so eingezwängt, dass er seine städtebauliche Wirkung nur noch in einer Richtung entfalten kann. Wer übrigens die Frauenkirche einmal von innen sehen will, muss nach wie vor eine lange Warteschlange in Kauf nehmen. Als Tourist einmal im Tempelbezirk der Stadtführer und Marktschreier angelangt, muss man sich entscheiden, ob man sich weiter auf die Dresdner Legenden einlassen will. Dann liegt all das, was keiner der über tausend Dresden-Buchtitel auslassen kann, in unmittelbarer Nähe: Die Kunstsammlungen in Zwinger und Albertinum, die Semperoper, die Hofkirche, der Fürstenzug. Im September wird das Historische Grüne Gewölbe, das „Schatzkästchen“ Augusts, wieder eröffnet. Der Freund der bildenden Künste wird aber bald bemerken, dass vom 20. Jahrhundert in den berühmten Sammlungen der Stadt nicht viel zu sehen ist.

Erst die im Vorjahr eröffnete Städtische Galerie im Stadtmuseum auf der Wilsdruffer Straße versucht hier Lücken zu schließen. Oder aber man nimmt sich Zeit für das andere, unzerstörbare Dresden und seine heutige Lebendigkeit. Die harmonisch bebauten Elbhänge in Verbindung mit der Flusslandschaft waren der Unesco den Titel „Weltkulturerbe“ wert. Gefährdet wird er nun durch das Prestigeprojekt einer riesigen Elbbrücke an einer der sensibelsten Stellen, deren Unoriginalität auch noch in einem gegenwartstypischen Kontrast zu früheren Dresdner Tugenden steht. In den flussnahen Stadtteilen auf der Altstädter Elbseite oder den ehemals dörflichen Vorstädten spiegelt sich der eigentliche Charme der Stadt. Die lockere Bebauung mit Jugendstilvillen oder den typischen frei stehenden Würfelhäusern schafft das Lebensgefühl urbanen Wohnens im Grünen. Dresden ist die deutsche Stadt mit dem höchsten Grünflächenanteil, und ins Osterzgebirge, zu den Kletterfelsen der Sächsischen Schweiz oder den Meißner Weinbergen ist es nicht weit.

Andererseits landet Dresden bei der Fahrradfreundlichkeit bundesweit am Schluss, und auch die Autofahrer gelten als ruppig. Doch nichts wird gerade im Jubiläumsjahr mehr genährt als werbewirksame Klischees. Eine neue Legende ist jüngst aber von unten gewachsen. In der Äußeren Neustadt zwischen Albertplatz und Bischofsweg hat sich eine Art Gegenpol zum verstaubten Barock gebildet. Hier zu kneippen, einzukaufen oder zu bummeln ist mittlerweile fast so unvermeidlich wie der Anblick der Sixtinischen Madonna. Futter aus allen Ländern, exotische Läden, Graffiti und originellste Hinterhofgestaltung bilden ein Multikulti-Gemisch trotz des geringen Ausländeranteils. Dafür fällt bei Wahlen stets der hohe Anteil der Aufgeklärten in diesem Stadtteil auf. Nicht zu vergessen das Kulturzentrum „Scheune“ oder die Kunsthof-Passage, wie überhaupt in der Neustadt viele der interessanten neueren Dresdner Galerien zu Hause sind.

Ein weiterer künstlerisch-zeitgenössischer Gegenpol soll im Sommer mit der Wiedereröffnung des Festspielhauses in der Gartenstadt Hellerau entstehen. Das Stadtmarketing möchte weg vom allein restaurativen Image. Die Universität, zahlreiche Forschungsinstitute oder die beiden Chip-Fabriken von Infineon und AMD passen zum Titel „Stadt der Wissenschaft 2006“. Also am besten hierher kommen, sich verzaubern oder ernüchtern lassen, vor allem aber der Selbstglorifizierung der Stadt möglichst wenig auf den Leim gehen.