Es ist Prasszeit!

Mal wieder nach Berlin fahren. Eine Hauptstadtreise mit erheblichen Hindernissen

Das Nachtleben war auch sehr schön, bis ich im Morgengrauen meine Jacke anzog

Nach einer schönen, aber teuren Fernreise war ich mehr als pleite nach Frankfurt am Main zurückgekehrt. Deshalb beschloss ich, all meine alten Sachen zu verkaufen und mein Zimmer zwei Monate zu vermieten. Ein genialer Plan. Der erste Teil des Sanierungsvorhabens klappte auch gleich wunderbar: Gut betuchte Flohmarktkunden rissen mir meine alten Schallplatten, Fotokameras und Beinkleider gierig aus den Händen. Am Ende des Tages war ich um 540 Euro reicher. Mit so wenig Arbeit hatte ich selten so viel Geld verdient.

Verständlicherweise bewegte ich mich die folgenden Tage in einem Zustand der Hochstimmung. So viel ich auch ausgab – das pralle Bündel an Scheinen verlor nur wenig an Umfang. Es musste etwas geschehen. „Ich fahre nach Berlin!“, beschloss ich im Freudentaumel. Das Nachtleben der Metropole schien mir der angemessene Platz zu sein, um das so unerwartet erworbene Geld sinnvoll wieder auszugeben.

Doch zunächst musste der zweite Teil des Plans ausgeführt werden und der gestaltete sich etwas schwieriger. Im Internet hatte ich mein Zimmer in den höchsten Tönen angepriesen, doch es meldete sich einfach niemand. Dann biss endlich eine Interessentin an. Eine asiatische Unternehmensberaterin namens Ling Ling oder so, die beim Anblick meines Zimmers in ein kaltes, starres Lächeln verfiel, fortan nur noch in die Unendlichkeit starrte und „ja, ja, sehr schön“ murmelte. Wir haben uns dann nie wieder gesehen.

Dafür kam Jack, ein nietzscheanisch dreinblickender Finsterling, der angab, gerade eine Dissertation in Mathematik und Philosophie zu verfertigen. Konkreteres war aus ihm ums Verrecken nicht herauszukriegen. Jede seine Schilderungen endeten damit, dass alles „sehr, sehr schwierig“ geworden war. Aber den Cousin meines Mitbewohners kenne er von der Uni „richtig gut“, sagte Jack noch zum Abschluss. Leider kannte der Cousin Jack nicht. Das war es dann gewesen.

Kurz vor meiner Abreise nach Berlin erreichte mich eine Mail aus Brasilien. Ein deutsch-brasilianisches Pärchen, sie junge 20 Jahre, er reife 28, wollten sich in Deutschland eine Zukunft aufbauen und gern zusammen in meinem Zimmer wohnen. Wie romantisch. Ich willigte ein, die beiden flogen und zogen ein, bezahlten die Miete, und ich fuhr gut versorgt in die Hauptstadt, wo ich das viele Geld nach Herzenslust verprassen wollte.

Auf der wie für mich gemachten Autobahn nach Berlin holperte ich gut gelaunt in der Hauptstadt ein. Dort war es auch gleich sehr lustig: Im Görlitzer Park hatte ein Mann eine Plastiktüte über den Kopf gezogen und um seinen Hals ein Gummiband festgezurrt, so dass er keine Luft mehr bekam. „Bitte geben Sie mir Luft“ hatte er auf ein Schild geschrieben. Nur zwei dünne Plastikschläuche führten zu seinem Kopf ins Innere der Tüte. Dort sollte jeder hineinblasen. Drei wahrscheinlich frisch von der Rütli-Schule geflogene Jugendliche ergriffen die Initiative. Nach einem sehr, sehr tiefen Zug an einem Riesenjoint, blies ein Jugendlicher dem Mann die ganze Tüte voll Haschischrauch. Der Mann kippte sofort um, hustete, zappelte mit den Beinen und riss sich die qualmende Plastiktüte vom Kopf. „Sag doch gleich, wenn du kiffen willst, Arschloch“, schrie der Jugendliche, „brauchst du keine Plastiktüte!“

Das Nachtleben war auch sehr schön. Alle Getränke konnte ich mir leisten und mein Geldbündel hatte ich stets mit dabei. Lohnte sich ja gar nicht, das aufs Konto einzuzahlen. Ich tanzte beschwingt, und die Zeit verging schnell. Als ich in einem der Clubs im Morgengrauen meine Jacke anzog und in meiner Tasche nach meinem Geldbeutel tastete, war dieser weg. Knapp 500 Euro auf einen Schlag. Genauso wie meine neue Digitalkamera und noch zwei Rollen à 25 Eurostücke, die ich vom Flohmarkt übrig hatte und in diversen Kneipen verjubeln wollte. Ich nahm es sehr gelassen, schrie die Barbetreiber an und trat sechzigmal in einen Bauzaun.

Unterbrochen wurde ich vom Klingeln meines Handys. Mein deutsch-brasilianisches Untermieterpärchen war dran. Lebensplan geändert, doch lieber nach London, Auszug sofort, Flug mit Rynair heute Nacht. Na gut.

Als ich zurück nach Hause kam, lag ein dramatischer Brief auf meinem Schreibtisch. Er begann mit den Worten: „Wir machen so etwas normalerweise nicht“, und endete mit dem Geständnis, ordentlich Geld aus der Haushaltskasse entwendet zu haben, „weil es anders nicht ging“. Dagelassen hatten sie einen riesigen Fernseher, einen DVD-Rekorder und einen Ghettoblaster von Sony, der aussieht, als könne man damit auch Panzer vernichten. Angeblich soll irgendeine „Oma“ den Krempel bald bei mir abholen. Doch darauf warte ich nicht. Morgen geht es zum Flohmarkt und danach – nach Berlin! MATTHIAS THIEME