Schwenk mit der Gondel

CANNES CANNES 3 Jafar Panahi im Gefängnis, im Wettbewerb „Chongqing Blues“ von Wang Xiaoshuai

Seit dem 1. März befindet sich der iranische Regisseur Jafar Panahi im Gefängnis in Teheran. Die Festivalleitung hat ihn eingeladen, der Wettbewerbsjury anzugehören – ohne Erfolg, wie leicht zu erahnen war. Frankreichs Außenminister Bernard Kouchner und Kulturminister Frédéric Mitterand haben das iranische Regime inzwischen aufgefordert, Panahi aus der Haft zu entlassen; der Präsident der Jury, Tim Burton, hat es ihnen am Mittwoch bei einer Pressekonferenz nachgetan. Die Freiheit, sich künstlerisch auszudrücken, dürfe nicht beschnitten werden, sagte er.

Der Journalist, der Burton nach Panahi fragte, hatte zwei Regisseure im Sinn, Panahi und Roman Polanski. Über Letzteren sagte Burton nichts, er ging aber auch nicht so weit, die Gleichsetzung der beiden Filmemacher von sich zu weisen. Dabei macht es doch einen großen Unterschied: Der eine sitzt wegen seiner politischen und künstlerischen Arbeit im Gefängnis eines Landes, in dem ein Regime herrscht; der andere befindet sich in Hausarrest in einem demokratisch verfassten Land, weil er per internationalen Haftbefehl – ausgestellt von den Justizbehörden eines anderen demokratisch verfassten Landes – gesucht wird.

Mehrere Regisseure, die Filme in Cannes zeigen, haben nun eine Petition zugunsten Polanskis verfasst, die auf laregledujeu.org erschienen ist, der Website des Publizisten Bernard-Henri Lévy. Dort hatte sich Polanski kürzlich selbst zu Wort gemeldet. Die Unterzeichner – unter ihnen Mathieu Amalric, Jean-Luc Godard und Olivier Assayas – sind überzeugt, dass Polanski 1978 verurteilt wurde, die Strafe absaß und nun kein zweites Mal für dasselbe Vergehen verurteilt werden darf.

Der Wettbewerb stottert derweil ein wenig. „Chongqing Blues“ von Wang Xiaoshuai hat zwar interessante Ansätze, verschenkt sie aber leichtsinnig, weil er lieber mit leicht lesbaren Zeichen arbeitet als mit Bildern, die zu entziffern eine Weile dauert. Erzählt wird die Geschichte eines Mannes, der nach 14-jähriger Abwesenheit in die Stadt Chongqing zurückkommt. Sein Sohn ist gestorben, er versucht herauszufinden, was geschah, stößt aber zunächst nur auf Ablehnung – die Tür wird ihm buchstäblich vor der Nase zugeschlagen. Die Kamera Wu Dis behauptet sich stückweise gegen die grobe Inszenierung, etwa indem sie sich an den Hinterkopf und die Schulterpartie des Protagonisten heftet, mit seinen Bewegungen mitschwenkt und dadurch beiläufig die Umgebung, deren Reichtümer und Rätsel mit ins Bild nimmt. Doch schon in der ersten Einstellung ahnt man das Dilemma. Zunächst schaut die Kamera von unten in den Himmel, die Leitungen einer Gondel kreuzen das Bild, die Gondel ist als dunkler Quader vor dem Graublau des Himmels zu sehen, es dauert eine Weile, bis man weiß, was sich in der Luft schwebt, und genau das macht das Bild interessant. Dann aber bewegt sich die Kamera wie ein nickender Kopf; in einem vertikalen Schwenk geht sie mit der Gondel mit, streift die Dächer der Hochhäuser, senkt sich noch weiter ab, bis sie auf die Skyline von Chongqing blickt. So wird aus dem viel versprechenden Blick in den Himmel ein banaler Establishing Shot.

CRISTINA NORD