Flexen bis zum Hörsturz

TOTGESAGTE LEBEN LAUTER Der Rock ’n’ Roll hat die Vorstadt erobert und tobt sich zwischen Beeten und Sträuchern in Vorgärten lautstark aus

Den Kleinbürger zieht es in die Vorstadt, abseits von Hektik und Lärm des Zentrums, zu Ruhe und Reihenhaus. So dachte der Autor, als er im Zentrum wohnte. Jetzt wohnt er in der Vorstadt und weiß, dass ein Autobahnkreuz neben dem Flugplatz zur Rushhour ein Tempel der Stille ist, verglichen mit der Vorstadt an einem Samstag im Mai.

Jeder männliche Vorstadtbewohner besitzt durchschnittlich 38 motorisierte Werkzeuge und Geräte: Häcksler, Turboaufsitzmäher, Megaschleifer, Hochdruck-Kärcher, Betonfräse, Kettensäge, Kreissäge, Bohrhammer und vieles mehr. All diesen Geräten gemeinsam ist das enorme Phon-Potential. An Mai-Samstagen setzt der Vorstadtbewohner alle 38 Geräte gleichzeitig in Gang, bei voller Lautstärke. Ihr Zweck ist nicht das Häckseln, Sägen, Mähen oder Fräsen, ihr Zweck ist die Selbstvergewisserung des Vorstadtmannes. Ich fräse, also bin ich. Ich häcksle und kärchere lauter als mein Nachbar, also bin ich bedeutender als mein Nachbar.

Diese Logik setzt eine progressive Lärmspirale in Gang, verstärkt durch das Gesetz der Relativität des Geräuschpegels, das wie folgt lautet: „Grundstücksgröße und Lärmpegel verhalten sich umgekehrt proportional.“ Das heißt: Je kleiner das Grundstück, desto lauter die Sägen, Kärcher und Fräsen.

Der vom Hersteller vorgegebene angebliche Zweck der Geräte tritt in den Hintergrund, was Satz zwei der vorstädtischen Relativitätstheorie belegt: Je kleiner das Grundstück, desto verwahrloster. Was daran liegt, dass die Lärmerzeugung keine Zeit mehr lässt, sich um Beete, Sträucher oder Stauden zu kümmern. Außerdem ist auf dem handtuchgroßen Grundstück neben drei Geräteschuppen und den zur motorengestützten Bearbeitung vorgesehenen Metalltüren, Wellblechen, Sand-, Stein- und Dreckhaufen, Baumstämmen, Schrottautos, Pressspanzargen, Dachziegeln, Sperrholz- und Gehwegplatten, Schützenpanzern, Fahrrädern, Wohnwagen und Kfz-Anhängern kein Platz mehr für Residuen natürlicher Vegetation.

Die sind allerdings auch nicht nötig, denn Vorgarten und Schuppen dienen nicht mehr der naturverbundenen Kontemplation, sondern als Rock-’n’-Roll-Bühne. Hier verwirklicht der Vorstadtgrundstückseigentümer endlich seinen Jugendtraum: Rockstar in der eigenen Show, dem Tausende gebannt zuhören. Dass diese dazu gezwungen sind, ist nebensächlich. Seit wann ist der Rock zimperlich oder gar demokratisch?

Das Paradeinstrument des Vorstadtrockers ist die Flex, die Sologitarre der Motorwerkzeuge, die Gibson Les Paul der Obi-Geräte, die niemand im Umkreis von 40 Kubikkilometern ignorieren kann. Endlich hören alle zu, und so steigt Samstag für Samstag ein Open-Air-Rockspektakel, das „Rock am Ring“, „Wacken“ und „Roskilde“ wie Kindergeburtstage mit Blockflöten erscheinen lässt. Mäher, Kärcher, Kreis- und Kettensäge sorgen für einen fulminanten Sound, vor dessen Hintergrund der Jimi Hendrix der Reihenhaussiedlung zu seinen unvergesslichen Soli ansetzt. Unvergesslich, weil Schalltrauma und Tinnitus sich für den Rest des Lebens ins Hirn fräsen wie einst Hendrix’ „Star-Spangled-Banner“ in die Erinnerung der Woodstock-Gemeinde.

Der Rock lebt. Auch wenn ihn HipHop, Elektro, R & B, Indiepop, Emo und andere Leisetreter-Musikstile aus den Zentren vertrieben haben. Hier, samstags im Mai, zwischen Geräteschuppen und Baumarkt, ist er lebendiger denn je, und vor allem: lauter. Flex on. JOACHIM FRISCH