Prag, Rilke und eine zeitlos schöne Rede

AUS DEM CAFÉ SLAVIAULRIKE BRAUN

Eigentlich kann das Prager Café Slavia erhaben hinwegblicken über Europatage oder Globalisierungsversuche österreichischen Kaffeehausschmähs. Das Café Slavia ist ein „Café d’Europe“. Und zwar par excellence! Nicht nur aus geografischer Sicht, weil es mittendrin liegt in Europa, weil es Tag für Tag eine Oase ist für durstige Wanderer aus allen Ecken und Enden der Alten Welt. Nein, das Café Slavia ist schon längst verewigt in der europäischen Literatur und mythologisiert in der neueren europäischen Geschichtsschreibung.

Es ist der Ort, an dem der tschechische Literaturnobelpreisträger Jaroslav Seifert einst über Paris sinnierte, in dem Ota Filips Romanheld Nikolaus Graf Belecredos Zuflucht findet vor den europäischen Wirren des 20. Jahrhunderts. Zum gesamteuropäischen Mythos geworden ist das Slavia als Treffpunkt der tschechoslowakischen Dissidenten der 70er- und 80er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Und wenn Europa sich in der heutigen profanen freiheitlich-demokratischen Zeit trifft im Café Slavia, dann vielleicht auch, weil es dort die Tradition des politischen Untergrunds vermutet und hofft, noch einen Hauch der Zigaretten und des Absinth zu spüren, die die Havels, die Dienstbiers, die Uhls dort einst bei verschwörerischen Zusammenkünften hinterlassen haben.

Ganz wie Europa lebt auch das Slavia von seinen Legenden. Wenn der mitteleuropäische Melancholiker Rainer Maria Rilke das Café Slavia in seinen Erzählungen zum Café National umtaufte, dann nicht einer künstlerischen Laune wegen, sondern weil das Café im ausgehenden 19. Jahrhundert eine Hochburg tschechischer Nationalisten war. In Rilke’scher Tradition ließe sich das Slavia nicht nur als bloßes Café d’Europe, sondern gleich als Café Europa bezeichnen. Zumindest am gestrigen Europatag. Man blieb unter sich – ein paar Studenten, Diplomaten, Journalisten und Václav Havel mit Freundeskreis. Havel, der Ehrengast, der drei Jahre nach Auslaufen seiner Amtszeit noch immer ehrerbietig als „pan prezident“ angesprochen wird, hielt eine wirklich schöne Rede über die Bedeutung Europas, seine Zweischneidigkeit und die Herausforderungen, denen es heute trotzen müsse. Eine wirklich schöne, poetische Rede. Zwar schon zehn Jahre alt und wiederverwertet. Aber das beweise, so das einstimmige Lob, wie sehr Havel doch zeitloser Philosoph und Visionär sei. Man war gekommen, um der schönen Europa zu huldigen, nicht um sich mit der EU auseinander zu setzen. Problematisches, wie EU-Skepsis oder Übergangsregelungen, fanden an diesem Europatag keinen freien Tisch im Café Europa.