Brüsseler Spitzen gegen die Eurokratie

AUS DEM CAFÉ FALSTAFFDANIELA WEINGÄRTNER

In der Jugendstil-Brasserie Fallstaff, neben der Brüsseler Börse, hält Belgiens Nationaldichter Geert van Istendael Märchenstunde. „Er was eens een man …“ – Es war einmal ein Mann … beginnt seine Geschichte, die er auf Niederländisch liest und für die es keine Übersetzungen gibt – angeblich, weil er erst tags zuvor damit fertig geworden ist.

Vielleicht gehört dieses flämische Sprachbad aber auch zum Programm. Die Kaffeehausbesucher sollen nicht, wie es sonst so häufig in Europas Hauptstadt geschieht, in ihre Kopfhörer hineinlauschen oder auf das Blatt Papier mit der Übersetzung starren. Sie sollen hinschauen, wenn der weißhaarige, bald sechzigjährige Dichter vorn auf dem Podium mit weit ausladenden Bewegungen seine Hauptfigur aus der Welt der Büroetagen und Hotellobbys hinab in die Brüsseler Unterwelt begleitet. Sie sollen zuhören, wenn er seine Muttersprache rollt, zischt, säuselt und diese Melodie mit ein paar Tönen Bruxellois anreichert.

Seine Geschichte erzählt vom Mitarbeiter eines multinationalen Konzerns, der beruflich viel herumkommt und der eines Tages im sterilen Brüsseler Europaviertel ein paar Meetings hat. So weit, so alltäglich. Das Märchen fängt an, als der Aktentaschenträger seine akustische Umgebung wahrzunehmen beginnt. Das Sprachengemisch bezaubert ihn so sehr, dass er seine wichtigen Termine vergisst und in die nächstbeste Metro steigt, um mehr davon zu hören.

Eine schöne Frau aus Westflandern führt ihn dorthin, wo die Eurokraten und Lobbyisten normalerweise nicht hinkommen: in die Marrollen, Brüssels Kleineleuteviertel. In der Société des Batards, der Geheimgesellschaft der Bastarde, erwartet ihn eine Szene von Breughel’scher Opulenz: Fünf Männer und fünf Frauen feiern bei Wurst, Käse, Wein, Oliven und belgischem Bier. Natürlich stammen sie aus aller Herren Länder, sprechen Flämisch, Bruxellois oder Französisch, wie es gerade so kommt. Auf dem Heimweg begegnen unserem Mann schließlich zwei Nordafrikaner, die ihn in der Sprache Jesu Christi ansprechen, auf aramäisch.

Dieses babylonische, chaotische Europa der Flüchtlinge, der Mischlinge, der Wanderer zwischen kulturellen Welten liebt Geert van Istendael. Die Hauptstadt ist Brüssel, ganz klar, das Herz aber schlägt nicht zwischen Ratsgebäude und EU-Kommission, sondern in den Marollen. Seine Sprache könnte Bruxellois sein, Esperanto oder Latein. Auf Englisch hingegen wird verhandelt, was der Dichter hasst: Binnenmarkt und Richtlinien und Welthandel und anwendungsorientierte Forschung.

Die Eurokraten unter den Zuhörern mochten die Botschaft von Istendaels Märchen nicht. Sie sprachen anschließend viel von Marktöffnung und Globalisierung. Vielleicht sollten sie öfter mit der Metro in die Marrollen fahren.