Tanzen gegen die Tristesse

Nach der erfolgreichen Kinoproduktion „Rhythm is it“ setzen die Philharmoniker ihr „Education“-Projekt fort. Sozial benachteiligte Jugendliche sollen bei Musik und Bewegung lernen, Konflikte zu lösen und Ängste abzubauen. Am Wochenende führen 450 Tänzer und Sänger Carl Orffs „Carmina Burana“ auf

Seit Jahren kümmert sich Sir Simon Rattle um vernachlässigte Jugendliche

Von Kays Al-Khanak

Ein älterer Mann mit grauem Vollbart steht neben einem Jungen in einem T-Shirt der Hardrock-Band Metallica. Vor ihnen verharrt ein junger Türke mit gegelten Haaren. Wie alle der rund 200 TänzerInnen auf der Bühne der Arena Treptow sind sie hoch konzentriert. Wie alle haben sie die Arme stocksteif an den Oberkörper gepresst. Plötzlich ertönt bombastische, klassische Musik aus den Boxen. Aus der militärisch anmutenden Ansammlung wird in Sekundenbruchteilen ein wilder Tanzreigen. Manche recken ihre Arme nach oben, einige schlagen Purzelbäume, andere haken sich unter und tanzen wild im Kreis.

Geprobt wird die Aufführung zu Carl Orffs „Carmina Burana“. Sie ist die vierte große Veranstaltung des „Education“-Projekts der Berliner Philharmoniker, das offiziell Zukunft@BPhil heißt. Über 450 SchülerInnen aus elf Berliner Schulen, eine Gruppe SeniorInnen – einige davon 77 Jahre alt – sowie AmateurtänzerInnen sind beteiligt. Zusammen mit den Profis von den Philharmonikern und dem Rundfunkchor Berlin entwickeln sie Gesangslinien und eine Choreografie für die Aufführung.

Das Projekt der Philharmoniker ist vor allem durch die erfolgreiche Kinodokumentation „Rhythm is it“ aus dem Jahr 2004 bekannt geworden. Der Film porträtiert die Arbeit des Choreografen Royston Maldoom und des Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker, Sir Simon Rattle. Beide sind auch bei der „Carmina Burana“ wieder feder- und taktstockführend. Der Film begleitete auch SchülerInnen, die an dem Projekt teilnahmen. Das Besondere daran: Es waren vor allem Jugendliche aus so genannten Problemkiezen wie etwa Neukölln. Die Dokumentation zeigt ihre Probleme, Wünsche, Ängste und am Ende auch ihre Erfolge.

Hinter dem „Education“-Projekt steckt ein pädagogisches Konzept: Menschen aus unterschiedlichen Gruppen und Kulturen sollen zusammenkommen, um andere und sich selbst besser kennen zu lernen. Vor allem Jugendliche aus schwierigen sozialen Verhältnissen sollen lernen, sich Ziele zu setzen und diese konzentriert umzusetzen.

Einer dieser Jugendlichen ist Olayinka Shitu. Er tanzt schon zum dritten Mal mit – unter anderem war er einer der Hauptdarsteller von „Rhythm is it“. Für den 19-jährigen Nigerianer ist dies nicht selbstverständlich. Im Oktober des vergangenen Jahres sollte er in seine Heimat abgeschoben werden, obwohl seine beiden Brüder und seine Eltern von der nigerianischen Militärpolizei ermordet worden sind (taz berichtete). Seine Freunde und Fans setzten sich für ein Bleiberecht ein – mit Erfolg: Seine Duldung wurde um zwei Jahre verlängert.

„Ich finde es hier so wunderbar“, schwärmt er. Seine Augen strahlen dabei. Er könne beim Tanzen seine Kondition und seine Konzentration verbessern. „Das wird mir auch im späteren Leben sehr nützlich sein“, glaubt er. Unter anderem für seine Ausbildung als Fachinformatiker tanke er Selbstbewusstsein, auch wenn er dieses Mal kein Hauptdarsteller ist.

So lange wie Olayinka ist Sven Thüne noch nicht dabei. Es ist sein zweites Mal – dabei war er zu Beginn gar nicht begeistert. „Als ich letztes Jahr von der Schule aus mitmachen musste, war ich total sauer“, sagt der 19-jährige Gymnasiast und wischt sich den Schweiß aus dem Gesicht. Doch nach zwei Tanzstunden änderte er seine Meinung. „Nach dem Projekt habe ich mich gleich an einer Tanzschule angemeldet“, sagt Sven. Er hofft wie Olayinka, durch das Training seine Konzentration stärken zu können. „Außerdem ist es super, dass sich hier eine Kameradschaft unter den Leuten entwickelt hat“, betont er. Kontakte werden geknüpft, Probleme in der Gruppe geklärt. „Diese positiven Erfahrungen kann mir keiner mehr nehmen“, sagt er.

Sven hat das umgesetzt, was sich die Intendantin der Berliner Philharmoniker, Pamela Rosenberg, von dem Projekt erhofft: „Die Kinder müssen selbst ran und dürfen keine Konsumenten von Kunst bleiben.“ Dies sei heute umso schwieriger, da Fächer wie Theater oder Kunst immer mehr aus dem Lehrplan der Schulen gestrichen würden. „Dabei sind sie doch so wichtig für die Persönlichkeitsentwicklung der jungen Menschen“, sagt sie. Mit dem Projekt wolle man diese Entwicklung kompensieren. Die Kreativität aller Beteiligten soll gefördert, das Selbstbewusstsein gestärkt und das Interesse an Tanz und Musik gesteigert werden.

Hinzu komme, dass sich Menschen unterschiedlichen Alters und verschiedener Herkunft aufeinander einlassen, ergänzt Jan Diesselhorst, Cellist und Orchestervorstand der Philharmoniker. „Am Ende entsteht große Kunst.“ Er freut sich jedenfalls auf das Zusammenspiel von Chor, Orchester und Ballett. „Für uns bedeutet die Veranstaltungen Sonderdienst und jede Menge zusätzliche Arbeit“, sagt er, „aber ich möchte sie nicht mehr in meinem Spielplan missen.“

„Carmina Burana“ wird morgen und am Sonntag in der Arena aufgeführt. Die Veranstaltungen sind ausverkauft