„Auch Willy Brandt schrieb nie ein Programm“

Wer den Markt alles regeln lässt, der wird selbst zur Ware, glaubt der einstige SPD-Vordenker Erhard Eppler. Der Sozialstaat kann jedoch nur gerettet werden, wenn sich die EU auf gemeinsame Standards verständigt

taz: Herr Eppler, auf dem SPD-Parteitag am Sonntag wird es wohl eine hitzige Steuerdiskussion geben. Ist angesichts dessen eine theorielastige Grundsatzdebatte noch sinnvoll?

Erhard Eppler: Ja, gerade. Denn in einem Grundsatzprogramm müssen wir klar machen, was die Pflicht des Staates ist und was der Beitrag der Zivilgesellschaft. Es muss eines klar sein: Wir wollen keinen Staat, der nur für die Märkte zuständig ist. Sondern wir wollen den Rechtsstaat, der – wenn man ihn sehr ernst nimmt – automatisch zum Sozialstaat wird. Einige Kompetenzen der Finanz- und Steuerpolitik sollten die Nationalstaaten an die Europäische Union abgeben.

Warum?

Man kann eine deutsche Regierung erpressen, wenn man sagt: Wenn ihr die Steuern nicht senkt, werden wir bei euch nicht mehr investieren. Der Europäischen Union zu drohen, wäre nicht sehr wirksam. Dazu ist der Markt zu bedeutend.

Muss sich der Sozialstaat also zunächst zurücknehmen?

Der Sozialstaat durchläuft schon lange eine schwächere Phase. Aber ich bestehe darauf, dass der Sozialstaat auch eine ökonomische Funktion hat. Ich sehe nicht ein, was wir ökonomisch davon haben, wenn zum Beispiel die Rentnerin Frieda Meyer sich keine Butter, sondern nur noch Margarine leisten kann. Es würde nur bedeuten, dass die Kapazitäten unserer Wirtschaft noch weniger ausgelastet sind.

Inwieweit taugt das von Matthias Platzeck in die Diskussion eingebrachte Modell des vorsorgenden Sozialstaates?

Der Gedanke des vorsorgenden Sozialstaates ist mir sympathisch. Er ist aber noch längst nicht durchbuchstabiert. Er muss im Detail ausgearbeitet werden. Bisher ist das Modell eine allgemeine Leitlinie, unter der man Verschiedenes verstehen kann.

Was verstehen Sie darunter?

Vorsorge kann nicht bedeuten, dass man ein Mal im Leben den Menschen eine Chance gibt, und wenn sie die nicht nutzen, dann haben sie eben Pech gehabt. Der Staat muss ihnen immer wieder neu eine Chance bieten. Auch wenn sie versagt haben. Deshalb interessiert mich wirklich, wie Fachleute der Sozialpolitik – und davon bin ich keiner – diesen Begriff durchdeklinieren.

Sie haben allerdings Gerhard Schröder bei seiner Agenda 2010 unterstützt, die doch dem Abbau des Sozialstaates die Tore geöffnet hat.

Nein, die Agenda 2010 hat nicht Tore zum Abbau des Sozialstaates geöffnet. Das hat zunächst mal bei Arbeitslosengeld und Sozialhilfe zu einer gewissen Vereinfachung geführt. Schröder stand damals unter einem ungeheuren Druck der noch völlig ungebrochenen neoliberalen Welle. Vor allem in den Medien. Ich habe ihn unterstützt, weil ich nicht sehen konnte, was er in dieser Situation eigentlich anderes machen sollte.

Ist denn die Situation heute eine andere?

Ich habe das Gefühl, dass der Wind sich nun gedreht hat und die meisten Menschen nicht nur in Lateinamerika, sondern inzwischen auch in Europa eines spüren: Wer alles dem Markt überlässt, wird schließlich selbst zur Ware. Von daher ist das Bedürfnis nach einer plausiblen, realisierbaren Alternative größer geworden. Hier liegt die Chance der Sozialdemokraten.

Diese Chance ergreifen sie nicht wirklich. Die Politik der SPD in den vergangenen Monaten lässt einen anderen Wind spüren.

Es ist kein Vorteil beim Schreiben eines Grundsatzprogramms, wenn man in der Regierung ist. Den Menschen wird aber im Moment immer klarer, dass sich an der Richtung der Regierungspolitik sehr wenig geändert hat.

Ist das denn gut?

Das ist natürlich für die Sozialdemokraten eher beruhigend.

Bedeutet diese Kontinuität auch, dass der Pragmatismus Schröders fortgesetzt wird?

Politik ist immer pragmatisch, wenn sie ernst genommen sein will. Die Frage ist nur, ob man bei einem pragmatischen Handeln einen Kompass hat. Ein Grundsatzprogramm soll diesen Kompass für das pragmatische Handeln im Augenblick liefern. Es ist schon ein Unterschied, ob man wie Schröder Politik macht unter dem Aspekt: Was können wir uns überhaupt in einer globalisierten Wirtschaft noch an Sozialstaat leisten? Oder ob eine Partei in einem Grundsatzprogramm beschließt, dass der Sozialstaat notwendig zum Rechtstaat hinzugehört.

Wird der künftige Parteichef Kurt Beck den Kompass in die Hand nehmen?

Kurt Beck ist ein außerordentlich erfolgreicher, bodenständiger, pragmatischer Landesvater. Niemand erwartet jedoch von ihm, dass er ein Programm schreibt. Das hat Willy Brandt im Übrigen auch nicht getan. Was Beck tun kann und sicher tun wird, ist, dass er die richtigen Leute an die richtigen Aufgaben setzt. Das ist, was ein guter Parteivorsitzender zu leisten hat.

INTERVIEW: SASCHA TEGTMEIER