„Jeder kann couragiert sein“

Je mehr Menschen einen Übergriff beobachten, desto geringer ist die Chance, dass jemand eingreift, sagt der Psychologe Wolfgang Scholl. Aber: Zivilcourage könne man lernen – am besten schon in der Schule

taz: Professor Scholl, warum schauen die Leute weg, wenn sie Gewalt sehen?

Wolfgang Scholl: Dafür gibt es mehrere Gründe. Der wichtigste ist bei offensichtlicher körperlicher Gewalt die Angst, selber angegriffen zu werden. Außerdem ist man in einer ungewohnten Situation unsicher, was zu tun ist. Der dritte und schwächste Grund ist, dass man Angst hat, etwas falsch zu machen und dem Opfer eher zu schaden als zu helfen.

Wird das Hilfeverhalten Einzelner davon beeinflusst, wie viele Menschen einen Übergriff beobachten?

Ja. Je mehr Menschen zuschauen, desto geringer ist die Chance, dass jemand eingreift. Das mag paradox klingen, aber es ist experimentell belegt. Der andere könnte ja auch was tun, deshalb tue ich selber nichts: Dieses Phänomen wird Verantwortungsdiffusion genannt. Das zweite Phänomen, das eine Rolle spielt, ist die pluralistische Ignoranz: Man ist unsicher, was man machen soll, und schaut auf die anderen. Die sind auch unsicher, tun erst mal nichts, und so entsteht bei allen der Eindruck, dass man am besten nichts tut.

Wie sollte man sich denn verhalten, wenn man beobachtet, wie jemand anders bedroht oder angegriffen wird?

Man muss zunächst die Gefährlichkeit der Situation und die eigenen Fähigkeiten abschätzen können. Danach muss man das richtige Mittel wählen, dem Opfer zu helfen. Wenn man sich nicht zutraut, direkt an die Täter heranzutreten, kann man zum Beispiel über das Handy die Polizei anrufen.

Hilft es auch, andere Zeugen anzusprechen?

Ja. Man sollte sich im Idealfall eine Person suchen, die körperlich zum Helfen in der Lage ist, sie direkt ansprechen und eine Koalition bilden. Wenn die anderen Zeugen sehen, dass einer etwas tut, dann wächst die Chance, dass sie auch anfangen sich zu überlegen, wie sie dem Opfer helfen könnten. Die Angst wird für jeden einzelnen geringer.

Ist Zivilcourage Veranlagungssache oder kann man sie sich antrainieren?

Jeder kann couragiert sein. Was eingeübt werden muss, ist wechselseitige Unterstützung. Je konkreter das gemacht wird, desto besser funktioniert es in der Realität.

Wie und so sollte Zivilcourage gefördert werden?

Es sollte in der Schule anfangen: Man kann dort Situationen, in denen Zivilcourage erforderlich ist, im Rollenspiel nachstellen. Entscheidend ist nämlich die Erfahrung. Je öfter man eine Gefahrenlage durchgespielt hat, desto einfacher fällt es einem im Ernstfall, sich richtig zu verhalten. Wichtig ist außerdem, dass couragiertes Verhalten veröffentlicht und geehrt wird. Das erhöht die Motivation, selber mutig zu sein. Es senkt die Hemmschwelle, wenn man konkrete Vorbilder vor Augen hat.

Können auch Erwachsene noch Zivilcourage lernen?

Auf jeden Fall. Die persönlichen Verhaltensmuster verhärten sich zwar mit dem Älterwerden. Aber man sollte die Möglichkeiten der Verhaltensänderung auch im Erwachsenenalter nicht unterschätzen.

Interview: Sophie Diesselhorst