Bildungsreform mit Bumerangeffekt

PROTEST Mit harter Hand hat Mexikos Regierung ihre Bildungsreform durchgedrückt. Lehrer sollen sich strengen Leistungstests unterziehen – und notfalls ihre Stelle verlieren. So soll vor allem die korrupte Lehrergewerkschaft entmachtet werden. Nun versucht es deren linker Flügel mit einer neuen Strategie

VON KNUT HENKEL

Erika Santillan Villanueva öffnet einen der Klassenräume. Rund fünfzig Schüler sitzen darin und warten lärmend auf die Aufgaben, die eine Kollegin gerade austeilt. „Wir haben eine leidlich gute Ausstattung, mehr Platz als die meisten Schulen, doch echte Chancen haben auch unsere Schüler nicht“, sagt die Lehrerin. „Und daran wird auch die Bildungsreform nichts ändern.“

So wie Erika Santilla Villanueva sehen es die meisten im Kollegium, hier am Moisés Saenz Garza in Mexiko-Stadt, einer Bildungseinrichtung mit 2.118 Schülern. Draußen hinter dem Maschendrahtzaun, der das Gebäude umgibt, hängt ein Transparent. In dicken, rot unterstrichenen Lettern ist darauf zu lesen: „Wir Lehrer sind gegen die Bildungsreform.“

Mexiko ist in Aufruhr. Seit Wochen laufen Pädagogen im ganzen Land Sturm gegen die Änderungen, die die Regierung von Präsident Enrique Peña Nieto Anfang September in Kraft setzte. Im Westen des Landes stürmten wütende Lehrer gar Parteizentralen, schlugen Scheiben ein, zündeten Möbel an. Protestierende Pädagogen blockierten eine Autobahn zwischen Mexiko-Stadt und Acapulco an der Pazifikküste und lieferten sich Auseinandersetzungen mit der Polizei. Die Reform sorgt für Zündstoff.

Am meisten Widerstand gibt es gegen die Idee, die Lehrer des Landes künftig zu evaluieren. In landesweiten Tests soll regelmäßig ihr Leistungsstand überprüft werden. Scheitern sie, drohen strenge Sanktion: Wer dreimal durch den Lehrertest fällt, kann entlassen werden. Auch wenn Lehrer drei Tage unentschuldigt fehlen, droht die Kündigung.

Für Unmut sorgt vor allem, dass sich die landesweite Lehrerevaluation an den Standards der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) orientiert, die unter anderem für internationale Vergleichsstudien wie Pisa verantwortlich ist. Mexiko ist unter den 34 Mitgliedsstaaten der OECD das Schlusslicht bei der Bildung. Regelmäßig schneiden mexikanische Schüler schlecht ab. Ob strengere Kontrolle der Lehrer allein daran etwas ändern, daran zweifeln Experten.

„Den Lehrern wird der Schwarze Peter zugeschoben, dabei brauchen wir mehr Inhalte, bessere Lehrmittel, neue didaktische Konzepte und eine bessere Ausstattung“, kritisieren etwa der Soziologieprofessor Manuel Gil Antón. Riesige Lerngruppen wie am Schulzentrums Moisés Saenz Garzan sind Alltag in Mexiko. Fünfzig Schüler sind die Durchschnittsgröße der Klassen zwischen Ciudad Juárez im Norden und Tapachula ganz im Süden der Vereinigten Staaten von Mexiko.

Dabei lässt sich Mexiko seine Bildung durchaus etwas kosten: 6,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gibt das Land dafür aus – 93 Prozent des Geldes fließen allerdings direkt in die Löhne der Lehrer. Für Investitionen, für Ausstattung, Bücher und die Weiterbildung der Lehrer steht meist schlicht kein Etat zur Verfügung.

Bus kaputt? Fahrer zur Führerscheinprüfung!

Bildungsexperte Manuel Gil Antón vergleicht Mexikos Schulsystem mit einem alten Bus, der mit ausgenudeltem Motor, löchrigen Reifen und quietschenden Stoßdämpfern auf einer Piste voller Schlaglöcher bergauf unterwegs ist. Damit der Bus jedoch nicht vor dem Gipfel schlappmacht, schlägt eine Gruppe von Passagieren vor, die Fahrer noch einmal zur Führerscheinprüfung zu schicken.

Eine Einschätzung, die auch Gabriel López Chiñas aus Oaxaca, einem Bundesstaat im Süden des Landes, teilt. López Chiñas, ein graumelierter, drahtiger Chemie- und Naturkundelehrer, gehört der Coordinadora Nacional de Educación (CNTE) an, dem Reformflügel der Bildungsgewerkschaft SNTE, der die Proteste der vergangenen Monate in Mexiko-Stadt organisiert hat. Die meisten der aufmüpfigen Lehrer kamen aus dem bettelarmen Süden Mexikos, aus Oaxaca, Chiapas, Guerrero oder Michoacán, wo die Bedingungen oft ganz anders sind als im Norden des Landes oder in den ökonomisch potenten Bundesstaaten wie Jalisco oder Puebla. Tausende von ihnen reisten zum Protestieren in die Hauptstadt.

„Im Süden verfügen die Schulen oft noch nicht mal über Strom, von Internet ganz zu schweigen, und oft wissen die Lehrer kaum, wie sie die abgelegenen Dörfer erreichen sollen“, schildert López Chiñas. „Genau deshalb wehren wir uns dagegen, mit den Kollegen in einen Topf geschmissen zu werden.“ Viele Schüler aus indigenen Familien im Süden des Landes müssten eigentlich zweisprachig unterrichtet werden – auf Spanisch und in einer der indigenen Sprachen, die vor Ort gesprochen werden.

Doch der von der Regierung beschlossene Lehrertest nehme keine Rücksicht auf solche Besonderheiten, auf das, was wirklich vor Ort im Unterricht zählt. „Die Tests nach dem OECD-Standard funktionieren in Finnland oder Deutschland, sind aber nicht einfach auf Oaxaca zu übertragen“, sagt López Chiñas.

Dieser Kritik schließt sich auch der Bildungsexperte Marcos Leyva von der in Oaxaca ansässigen Nichtregierungsorganisation Educa an: „Regionale und lokale Charakteristika sollten nicht nur bei der Evaluation, sondern auch im Unterricht stärker berücksichtigt werden.“ Doch da sind Länder wie Guatemala oft schon weiter als das ungleich ressourcenstärkere Mexiko.

Gewerkschafter López Chiñas hat daher an einem Gegenkonzept zur Regierungsreform mitgearbeitet. Es gilt für Oaxaca, wäre aber auch auf andere Regionen übertragbar und sieht vor allem mehr Transparenz im Bildungssektor vor: Denn erhebliche Mittel, die für besseren Unterricht nötig wären, versickern im korrupten staatlichen Apparat. Doch auch die Lehrergewerkschaft selbst blickt hier nicht immer auf eine ruhmreiche Geschichte zurück.

Fälle wie den von „La Maestra“ soll es dann nicht mehr geben, hofft Gabriel López Chiñas. „La Maestra“ ist Elba Esther Gordillo, die ehemalige Generalsekretärin der Bildungsgewerkschaft SNTE. Sie brachte es durch Ämterhäufung und Paternalismus zu einer der politisch einflussreichsten Frauen Mexikos. Derzeit wartet sie im Gefängnis auf ihren Prozess wegen Veruntreuung. Dass es überhaupt zu einer Strafanzeige gegen die mächtige Gewerkschaftsfrau gekommen ist, dürfte auch daran liegen, dass sie 2006 der Partei von Präsident Enrique Peña Nieto den Rücken kehrte und sich der Konkurrenz zuwandte, vermutet Gabriel López Chiñas. Mexikanische Verhältnisse.

„Die Bildungsreform der Regierung“, meint Gabriel López Chiñas, „ist der Versuch, die Gewerkschaft wieder unter Kontrolle zu bringen.“ Dagegen und gegen das typische Postengeschacher zwischen Politik und Gewerkschaftsspitze haben sich die Reformkräfte wie Chiñas in der Coordinadora in Position gebracht. Sie versuchen, dem in den Medien vermitteltem Bild vom faulen und korrupten Lehrer mit bildungspolitischen Konzepten zu begegnen.

Bilinguale Unterricht, Investitionen in die Infrastruktur und eine Lehrerevaluation, die auf lokale Besonderheiten Rücksicht nimmt – das sind neben mehr Transparenz die wichtigsten Punkte des Konzepts der Reformgewerkschafter. Das wird derzeit auch in anderen Bundesstaaten diskutiert.

Lehrer sollen ihre Schule künftig selbst renovieren

Dort ist den Lehrern mittlerweile aufgegangen, dass mit der von der Regierung durchgedrückten Bildungsreform nicht nur regelmäßige Tests drohen, sondern ihnen auch ganz neue Aufgaben zugeschoben werden. So sollen die Lehrer fortan für den Erhalt und die Renovierung ihrer Schule gemeinsam mit den Eltern verantwortlich sein. Dafür sollen die Schulen einen Etat erhalten.

Marcos Leyva von der Nichtregierungsorganisation Educa befürchtet daher, dass die Bildungsreform einem weiteren Zweck dienen könnte: „Wir sind der Meinung, dass sich die Regierung ihrer Aufgaben entledigen will.“ Beispiele dafür gibt es in der Region: In Kolumbien oder Guatemala zieht sich der Staat bereits aus der Bildung zurück, die Zahl der Schüler an Privatschulen nimmt dort stetig zu.

Auch deswegen hofft der Reformflügel der Lehrergewerkschaft auf Zulauf. „Ziel ist es, Lehrerkomitees in allen Bundesstaaten zu gründen, um die Debatte über die Folgen der von oben verordneten Reform und unsere Alternative voranzutreiben“, sagt López Chiñas. So will man peu à peu die Lehrermehrheit in mindestens 20 der 32 Bundesstaaten gewinnen, um so die restriktive Bildungspolitik und mit ihr die wenig passenden OECD-Kriterien bei der Evaluierung zu Fall zu bringen.

Im Schulzentrum Moisés Saenz Garza in Mexiko-Stadt jedenfalls steht bereits das Gros des Kollegiums hinter dem Konzept der Coordinadora, das sagt Lehrerin Erika Santillan Villanueva. Ob es für den bildungspolitischen Schwenk reichen wird, das müssen die nächsten Monate zeigen.