Zu Beton erstarrter Wirbelsturm

Mit der nötigen Distanz zur gewöhnlichen Parkgarage: In Stuttgart-Untertürkheim eröffnet das neue Mercedes-Benz-Museum. Der grandiose Bau macht den automobilen Ausstellungsstücken echte Konkurrenz – ein architektonisches Raumkunstwerk

Der Bau ist der Star: Täglich werden 3.000 Besucher in den hohlen Kern dieser Strudelskulptur eintauchen

VON ROLAND PAWLITSCHKO

Vom Besuch eines Automobilmuseums erwartet man keine größeren Überraschungen. Nach dem Prinzip des Schaudepots, bisweilen aber auch einfach nur aus Platzgründen, stehen die Objekte der Begierde oft dicht gruppiert beieinander, wahlweise nach chronologischen oder typologischen Kriterien geordnet. Atmosphärische Kulissen mit Gegenständen aus der Entstehungszeit der Exponate schaffen die nötige Distanz zu gewöhnlichen Autohäusern und Parkgaragen, mit denen Automuseen naturgemäß eng verwandt sind.

Wer sich nun aber nach Stuttgart-Untertürkheim zum neuen Mercedes-Benz-Museum begibt, das heute in Anwesenheit der Kanzlerin eröffnet wird, der wird zunächst einmal ziemlich verblüfft vor einer geheimnisvoll zerklüfteten Strudelskulptur stehen. Trotz seiner rätselhaft verquirlten Geschosse entwickelt sein Raum- und Ausstellungsprogramm im Inneren aber eine bemerkenswerte Stringenz. Die Architekten Ben van Berkel, Caroline Bos und Tobias Wallisser vom Amsterdamer UN Studio haben die überaus präzisen Vorgaben des von HG Merz entwickelten Ausstellungskonzeptes nahezu wortwörtlich umgesetzt – freilich in einer Form, die an die Grenzen des menschlichen Vorstellungsvermögens reicht. Denn anders als beim New Yorker Guggenheim-Museum Frank Lloyd Wrights, dessen schwungvoll um ein Atrium kreisende Ausstellungsrampe angesichts der konischen Gebäudehülle eigentlich keine Überraschung mehr bietet, erzeugen die umlaufenden Glas- und Aluminiumstreifen des Mercedes-Benz-Museums kaum verwertbare Bilder für die dahinter liegenden Innenräume.

Näherte man sich dem Museum hingegen aus der Luft, wäre seine Architektur weniger geheimnisumwittert. Am Rand eines regellosen Durcheinanders aus werkseigenen Fabrik- und Kraftwerksgebäuden würde man den im Grundriss dreiecksförmigen Baukörper erkennen; hoheitsvoll in sich ruhend und umgeben von einem Gewirr aus sechsspurigen Schnellstraßen sowie den Rasenplätzen des VfB Stuttgart. In der schnellen Bewegung um den glänzenden Rundling wären selbst die beiden ineinander verschlungenen und um ein zentrales Atrium sich windenden Raumspiralen der dreidimensionalen Kleeblattschleife deutlich zu erkennen.

Zählte schon das alte, 1961 eröffnete Mercedes-Benz-Museum mit 500.000 Besuchern im Jahr zu den meistbesuchten Museen Deutschlands, so rechnet der Konzern nun sogar mit einer Verdoppelung dieser Zahl. Täglich werden also knapp 3.000 Besucher den sanften Hügel zum Haupteingang hinaufsteigen, um zunächst einmal in den hohlen Kern der Strudelskulptur einzutauchen, ein minimalistisch kühles Atrium. Beim Blick in die fast fünfzig Meter hohe Halle zeigt sich ein in jeweils allen drei Kleeblattbereichen zu Beton erstarrter Wirbelsturm aus spiralförmig aufsteigenden Ausstellungsebenen, welche von mächtigen, propellerartigen Sichtbetonbauteilen getragen werden. Wie um der Metapher des Strudels auch im Detail gerecht werden zu wollen, basiert selbst die Entrauchung des Gebäudes im Brandfall auf einer im Atrium künstlich erzeugten Windhose, die den Rauch über Dachöffnungen förmlich aus dem gesamten Gebäude herauswirbeln würde.

Nach einer Aufzugsfahrt in die oberste Ebene beginnt der eigentliche Museumsrundgang mit den geschichtlichen Ursprüngen des Autokonzerns – dessen Wurzeln tatsächlich nur wenige Kilometer entfernt in einer unscheinbaren Werkstatt liegen, in der Gottlieb Daimler einst den ersten Vierradkraftwagen der Welt mit Viertaktmotor entwickelt hatte. In einem sich abwärts drehenden Rundgang gilt es insgesamt sechs von der Außenwelt abgeschirmte und theatralisch inszenierte „Mythosräume“ zu durchwandern, in denen die wichtigsten „Höhepunkte der Markengeschichte“ präsentiert werden, darunter auch jenes berühmte Simplex Automobil aus dem Jahr 1904, das als erstes Fahrzeug den Namen „Mercedes“ trug. Um jeweils ein Geschoss versetzt bewegt sich die zweite Spirale mit sechs tageslichtdurchfluteten „Collectionsräumen“ in die gleiche Richtung. In einem vergleichsweise nüchternen Umfeld mit fantastischem Ausblick in die Umgebung sind dort thematisch zusammengefasste Fahrzeuggruppen zu sehen, vom WM-Bus der deutschen Fußball-Nationalelf von 1974 bis zum einfachen Traktor. An jedem der schleifenden Übergänge zwischen den einzelnen Mythos- oder Sammlungsräumen kann der Weg schließlich in der jeweils anderen Schleife fortgesetzt werden. Am Ende münden beide Rundgänge im untersten, alle drei Kleeblattbereiche einnehmenden Mythosraum, der den Rennerfolgen der legendären Silberpfeile gewidmet ist.

Innerhalb der drei Jahre Planungs- und Bauzeit wurden 35.000 Pläne produziert: Der Bau des Mercedes-Benz-Museums wäre ohne den Einsatz von Computern und speziell hierfür entwickelter 3-D-Software schlicht unmöglich gewesen. Dennoch wäre es falsch, die Leistung der Architekten in der virtuosen Beherrschung leistungsfähiger Datenverarbeitungsanlagen zu sehen oder das Museum einfach als trendige Computerarchitektur abzutun, die auf einem hauptsächlich von persönlicher Willkür geprägten Architekturentwurf basierte. UN Studio ging es vielmehr um die poetische Inszenierung einer dreidimensionalen Doppelhelixstruktur, deren geometrische Gesetzmäßigkeiten schon die Grundlage für die unglaublich vielschichtigen Raumbeziehungen des heutigen Museums in sich tragen.

Das an der Ober- und Unterseite merkwürdig verwundene Tragwerk ist dabei nicht bloßes Hilfsmittel zur Generierung dynamisierter Innenräume, es ist ihr Negativabdruck. Raumkonzept, Konstruktion und Funktion sind zu einer einzigartigen Einheit verschmolzen. Nicht zuletzt im Hinblick auf die von den 160 ausgestellten Fahrzeuge ausgehenden Deckenlasten bezeichnet Ben van Berkel das Mercedes-Benz-Museum sachlich als Infrastrukturmaßnahme. Dabei wäre es nicht übertrieben, von einem der wichtigsten Raumkunstwerke unserer Zeit zu sprechen, ganz gleich, ob man sich nun für Glanz und Gloria des schwäbischen Autobauers interessiert oder nicht.