jazzkolumne
: Ausweitung der Diskurszone

Kampf an der „color line“: Der New Yorker Pianist Vijay Iyer versucht mit dem Poeten Mike Ladd Jazz und Politik zu verbinden

Die gut gelegene Wohnung ist klein, das Musikzimmer ist mit Flügel, Computer und elektronischem Equipment angefüllt. In wochenlangen Proben hat er hier mit seinem Impro-Ensemble Fieldwork kollektive Improvisationsstrukturen entwickelt. Der Pianist Vijay Iyer wohnt in Manhattans Neighborhood Morningside Heights. Seine Tochter ist knapp zwei Jahre alt, seine Frau arbeitet um die Ecke in der Columbia University als Computerwissenschaftlerin. Iyer wurde 1971 in New York State geboren, studierte in Yale Physik und Philosophie, seine Dissertation kann man im Internet lesen (www.vijay-iyer.com). Er hat die Wechselwirkung von Körperhaltung und musikalischer Sprache untersucht, ihn interessiert das körperliche Vokabular des Künstlers genauso wie die Ideen, die ihn inspirieren und motivieren.

Auf der ersten Fieldwork CD „Your Life Flashes“ (Pi Recordings) hat Iyer dieses Wechselspiel in dem Stück „Accumulated Gestures“ auch musikalisch thematisiert. Zu der Reflexion über körperliche Veranlagungen kommen bei Iyer die Experimente mit rhythmischen Strukturen hinzu. Es sei „wie Monks Hände werden“, wenn er die Kompositionen des Jazzrevolutionärs Thelonious Monk spiele, sagt Iyer.

Mit Anfang 20 war er zum ersten Mal professionell auf Tour, der Saxofonist Steve Coleman hat ihn entdeckt, gefördert und engagiert. So kam er mit dem M-Base Netzwerk in Kontakt, jenem jungen schwarzen Musikerkollektiv, das Coleman Mitte der Achtzigerjahre in Brooklyn gegründet hatte. Später lernte Iyer den Posaunisten George Lewis kennen, der ihm die Türen zur AACM, dem legendären afroamerikanischen Musikerselbsthilfenetzwerk in Chicago, öffnete. Lewis, der heute Professor an der Columbia University in New York ist, gehörte auch zum akademischen Beirat für Iyers Dissertation. Und schließlich fand Iyer noch Zugang zum Asian Improv-Netzwerk, das an der amerikanische Westküste Arbeitsbedingungen für kreative Improvisatoren mit asiatischem Background organisiert.

Bei der Transkription von Aussagen des Saxofonisten John Coltrane, die er während der Aufnahmesession zu seinem einflussreichem Stück „Giant Steps“ machte, fanden Iyer und Steve Coleman heraus, dass Coltrane an einer Stelle von „tellin’ them black stories“ spricht. Iyer folgert daraus, dass es Coltrane offenbar darum ging, eine musikalische Sprache zu kreieren, die die gesamte Community versteht und berührt. Iyer bezeichnet sich selbst als südasiatischen Amerikaner und als „person of color“, mit den Afroamerikanern habe er die Erfahrung gemein, anders zu sein. Zwar haben seine Vorfahren keine Sklavengeschichte und man gehöre auch nicht zu den ärmsten Schichten, sobald es jedoch um die Frage des Amerikanerseins geht, seien Ressentiments im Spiel, die Iyer als „color line“ bezeichnet. Wenn er seinen Anspruch, Amerikaner zu sein, geltend mache, spüre er, dass die südasiatischen nicht dieselben Chancen wie die europäischen Amerikaner hätten.

Iyer hört Jazz als Geschichte des Widerstands und Kampfes, als „Diskurszone“, wie er sagt. Zusammen mit dem Hiphop-Produzenten und Poeten Mike Ladd thematisierte er auf der CD „In What Language?“ traumatische Erfahrungen mit amerikanischen Sicherheitsbehörden, die Transitreisende mit brauner Hautfarbe am New Yorker JFK-Flughafen gemacht haben. Das Video dazu ist auf www.pirecordings.com/pi09 zu sehen.

„Mit ‚In What Language?‘ wollten wir verschiedene aktuelle Erfahrungen aufgreifen, die seit den Anschlägen am 11. September 2001 unser Leben bestimmen“, berichtet Iyer. „Dazu gehört ganz besonders die Auseinandersetzung mit der Globalisierung. Wir haben in verschiedenen Episoden die Situation von Menschen thematisiert, die ihrer kulturellen Herkunft nach aus einem Land der so genannten Dritten Welt kommen. Eigentlich sind das Themen, die ich in meiner Musik immer schon als sehr präsent empfinde, die Worte verstärken die Absicht jetzt allerdings enorm. Ich werde ja normalerweise als Jazzmusiker kategorisiert und Mike als Hiphop-Poet, doch das hat uns überhaupt nicht interessiert. Uns geht es um Inhalte, wir wollen unsere Ansichten zum Ausdruck bringen, und für dieses Projekt hatten wir den Flughafen als ein thematisches Zentrum gewählt. Es geht uns dabei also um wesentlich mehr als um die Kombination von Worten und Noten.“ In der jüngsten Zusammenarbeit von Ladd und Iyer, „Still Life with Commentator“, geht es um die Rolle von Publikum und Medien unter den Bedingungen aktueller Kriegsführung. Die europäische Erstaufführung gibt es beim Salzburger Kontrakom-Festival am 16. Juni (www.salzburg-kontra.com).

Seit zehn Jahren spielt Iyer schon mit dem Saxofonisten Rudresh Mahanthappa zusammen, der, ebenfalls südasiatischer Amerikaner, in seinen Soli mit von ihm in Musik übersetzte Muster verschiedener indischer Sprachen experimentiert. Die neueste CD der beiden heißt „Raw Materials“ und ist auf www.savoyjazz.com komplett und zum kostenlosen Anhören ins Netz gestellt. Beabsichtigt oder nicht – angesichts der mangelhaften Vertriebsstruktur des reaktivierten Savoy-Labels in Deutschland jedenfalls eine sehr willkommene Geste.

Jazz tauge nur etwas, wenn man den Puls des Widerstands spürt, sagt Iyer. Für ihn ist die Geschichte dieser Musik von Individuen geprägt, die Risiken auf sich nahmen. Diese Community der Improvisatoren bezeichnet Iyer als sein „Zuhause“ – Leute, die unter behüteten Bedingungen Jazz spielen, interessieren ihn nicht.

CHRISTIAN BROECKING