Goethe zum Glück auch in New York

ERINNERUNG Julius Bab war einer der renommiertesten Theaterkritiker – und wurde von den Nazis vertrieben. Für seine Würdigung beim Themenjahr „Zerstörte Vielfalt“ reiste seine Enkelin zum ersten Mal nach Berlin

„Jetzt ist er doch noch nach Berlin zurückgekehrt“

BARBARA BAB ÜBER IHREN GROSSVATER

VON BARBARA BEHRENDT

37 Litfaßsäulen stehen auf dem Trottoir vor dem Lustgarten, wie massive Baumstämme. Auf ihnen die Fotos von 222 Intellektuellen, Künstlern, Schriftstellern, die im Nationalsozialismus verfolgt wurden. Walter Gropius und Käthe Kollwitz, aber auch weniger bekannte Figuren wie die Kunstsammlerin Regina Freudenberg. Unter dem Kopf des fast vergessenen Theaterkritikers Julius Bab steht eine zierliche Frau mit dunkellockigem Haar, für die sich hier der Kreis ihrer Familiengeschichte schließt. „Jetzt ist er doch noch zurückgekehrt“, beschreibt sie später im Hotel ihre Gedanken beim Blick auf den Großvater.

Die Porträts am Lustgarten sind Teil des Themenjahrs „Zerstörte Vielfalt“ anlässlich des 80. Jahrestags der Machtübernahme durch den Nationalsozialismus und der Novemberpogrome vor 75 Jahren. Barbara Bab, die Enkelin von Julius Bab, hat zufällig von der Ehrung ihres Großvaters erfahren und ist deshalb jetzt im November erstmals nach Berlin gereist. Diesen Besuch, meint sie, sei sie ihrer Familie schuldig.

Geboren wurde Barbara Bab im Jahr 1954 in New York – 16 Jahre, nachdem ihr deutsch-jüdischer Großvater aus Deutschland fliehen musste. Im Jahr 1955 starb er, fast vergessen vom Feuilleton. Dabei zählte Bab in den Goldenen Zwanzigern neben Alfred Kerr und Herbert Ihering zu den renommiertesten Theaterkritikern. Er unterrichtete an Max Reinhardts Schauspielschule und zog mit leidenschaftlichen Vorträgen durchs Land. In seinem Haus verkehrten Gerhart Hauptmann, Ödön von Horváth und Kurt Tucholsky. Ein kulturkonservativer, aber auch sozialdemokratischer Geist. Und dem liberalen Bürgertum verpflichtet. Sein Grundsatz, „dass jedes Theater als ein elementarer Gesellschaftsakt organisch nur vom Publikum aus aufgebaut werden kann“, fernab „künstlerischer Genialitäten und mäzenatischen Opfern“, machte ihn zum Mitbegründer und Leiter des Volksbühnen-Vereins.

Barbara Bab hat keine Erinnerung an ihren Großvater, doch ihre Kindheit, sagt sie, war von seinem Geist geprägt. Zu Hause sprach man Deutsch, Englisch lernten sie und ihr Bruder erst in der Schule. Die Religionszugehörigkeit spielte keine Rolle. Ihr Vater Bernd, verheiratet mit einer deutschen Katholikin, fuhr am Wochenende lieber an den Strand als zur Synagoge oder Kirche. „Vor Weihnachten“, erzählt Bab, „kaufte er im deutschen Viertel Leberwurst und Zimtsterne, dafür hat er das ganze Jahr gespart.“ Mit den Töchtern des Schriftstellers Richard Beer-Hofmann und Alfred Döblins Neffen feierten sie Heiligabend – und eben nicht Christmas oder Chanukka.

Auch nach seiner Flucht aus Deutschland fand Julius Bab seine geistige Heimat in der deutschen Kultur. In einem Brief an Thomas Mann beschrieb er, wie er in New York auf ein Monument stieß: „Es war Goethe! Seitdem kommt mir Amerika nicht mehr ganz so fremd vor.“ Jüdisch sein und deutsch, das stand für ihn nie im Konflikt: „Wir haben unsere Kraft aus einer zweifachen Wurzel gezogen, wir waren Juden und Deutsche, und wir sind es noch“, schrieb er 1933. Dass er im selben Jahr den Kulturbund der deutschen Juden gründete, um zumindest eingeschränkt arbeiten zu können, nannte er später „einen bedauerlichen Fehler“. „Es ist all das, was ich 30 Jahre lang abgelehnt habe, es ist das Ghetto.“

Barbara Bab ordnet ihre Familiengeschichte gewissenhaft. Alle Publikationen sind im Julius-Bab-Archiv an der Akademie der Künste in Berlin oder im Leo-Baeck-Institut in New York untergebracht; die Briefkorrespondenz Babs mit Theodor Heuss liegen noch bei ihr zu Hause.

Doch wie kann eine jüdisch-deutsche Familie, vertrieben, manche Verwandte ermordet, ohne Ressentiments ihre deutsche Vergangenheit pflegen? „Nicht nur wir haben gelitten“, versucht es Barbara Bab zu erklären und erzählt von der Hungerzeit ihrer Großeltern mütterlicherseits in Mönchengladbach. „Mein Opa Julius hat im Ersten Weltkrieg für die Deutschen gekämpft. Mein Vater im Zweiten für die Amerikaner. Und mein Onkel ist in Russland gefallen. Ich trage viele Stücke der deutschen Geschichte in mir.“

Sie selbst hat aus ihrer Herkunft einen festen Standpunkt gewonnen: „Ich weiß, woher ich komme und wer ich bin. Ich muss niemandem etwas beweisen.“ Dieser Stolz auf die deutschen Wurzeln wirkt ungewöhnlich. Und die nächste Generation hat damit weniger zu tun: Barbara Babs erwachsene Kinder sprechen kein Deutsch und interessieren sich wenig für ihre Geschichte. Aber wie sich das Gedenken an die NS-Zeit in die nächste Generation tragen lässt, ist natürlich auch in Deutschland eine Frage.

Die beklebten Säulen jetzt zum Gedenkjahr sind zumindest unübersehbar. „Ich freue mich sehr, dass mein Großvater dabei ist“, sagt Barbara Bab, „aber was ist mit den vielen Unbekannten, die umgekommen sind? Wie muss es den Enkeln dieser Menschen gehen?“ Der Säulenwald ist ein signalhafter Einwand gegen die Zerschlagung der einstigen Kulturelite. Doch wer weiß, ob sich Julius Bab nicht auch an die ihm verhasste Ghettoisierung erinnert fühlte, sähe er die Köpfe der Verfolgten auf dem Gehweg zusammenstehen.