Forscher: Agrarspekulation wohl doch lebensgefährlich

ERNÄHRUNG Entwarnende Studie beruht auf einseitiger Quellenauswahl, sagt Ökonom Bass

BERLIN taz | Der bekannteste Beleg für die angebliche Unschädlichkeit der Finanzspekulation mit Nahrungsmitteln ist einer neuen Analyse zufolge mangelhaft. Der etwa von der Deutschen Bank zitierte Literaturüberblick des Wirtschaftsethikers Ingo Pies beruhe auf einer einseitigen Auswahl von Studien, schreibt der Bremer Ökonom Hans-Heinrich Bass in einem am Donnerstag veröffentlichtem Papier für die Verbraucherorganisation Foodwatch.

Eine Forschergruppe um Professor Pies an der Universität Halle-Wittenberg war 2012 in dem kritisierten Überblick zu dem Schluss gekommen: Nach aktuellem Forschungsstand seien die Lebensmittelpreise nicht wegen der zunehmenden Finanzspekulation, sondern wegen der wachsenden Knappheit gestiegen. Damit entlastete die Gruppe beispielsweise Fonds von dem Vorwurf, ihre Geschäfte mit Wertpapieren auf Nahrungsmittel würden die Agrarrohstoff-Preise in die Höhe treiben – weshalb sich viele der weltweit 842 Millionen Hungernden nicht genug Essen kaufen könnten.

Pies stützt sich vor allem auf zehn Studien aus Fachzeitschriften, die ihre Artikel in einem „Peer Review“-Verfahren von unabhängigen Gutachtern überprüfen lassen. Doch sechs dieser Texte stammen Volkswirt Bass zufolge von demselben Autorenteam um den US-Wissenschaftler Scott Irwin. Dieser habe aber nach eigenen Angaben für einen Anbieter von Rohstofffonds gearbeitet. „Das nimmt seinen Schlussfolgerungen den Nimbus der Neutralität“, sagte Bass.

Auch den Inhalt der Studien verriss er. Als andere Wissenschaftler eine Berechnung von Irwin und Kollegen wiederholten, seien sie zum gegenteiligen Ergebnis gekommen: dass bestimmte Fonds sehr wohl die Weltmarktpreise von Nahrungsmitteln beeinflussen können.

„Es gibt den Beleg für die Unschädlichkeit der finanzwirtschaftlichen Agrarspekulation nicht“, folgerte Foodwatch-Chef Thilo Bode. Weil wegen der Geschäfte also möglicherweise doch Menschen verhungerten, müsse das Vorsorgeprinzip etwa aus dem EU-Recht angewandt und Spekulation eingeschränkt werden.

„Bei ohnehin unterernährten Kindern können schon Preisschocks von wenigen Tagen die nötige Zufuhr an Mikro-Nährstoffen unterbrechen und dazu führen, dass diese Kinder einfach sterben“, erklärte Bode. Die an Agrarspekulationen beteiligten Unternehmen Deutsche Bank und Allianz müssten sich entscheiden: „aussteigen – oder weiter über Leichen gehen“.

Die Deutsche Bank teilte auf Anfrage der taz mit, „dass es kaum stichhaltige empirische Belege für die Behauptung gibt, die zunehmende Bedeutung von Agrarfinanzprodukten sei für Preissteigerungen oder erhöhte Preisschwankungen verantwortlich“.

Gleichzeitig würden aber zahlreiche Vorteile von Agrar-Terminmärkten für Landwirte und Nahrungsmittelverarbeitung gesehen. Ethikprofessor Pies war bis Redaktionsschluss nicht für eine Stellungnahme zu erreichen. JOST MAURIN