Im Dickicht der Kleinstädte

LEBEN IM UMBRUCH Philipp Löhles neues Bühnenstück „Die Überflüssigen“ im Gorki-Theater zeichnet den Verfall der ländlichen Ortschaften im Osten der Republik zu Ghost Towns nach und etabliert hinter dieser Kulisse eine veritable Kriminalgeschichte

Das Sterben der Provinz hat einen Namen: Die fiktive Kleinstadt Lukke ist ein Kessel von bröckelndem Mauerwerk, praktisch ohne Ein- und Ausgang. Der Zug kommt nur einmal am Tag vorbei, der Fluss ist Naturreservat und die einzige Telefonzelle von wilden Tieren bevölkert. Lukke ist das „Gegenteil von etwas“, sagen seine Bewohner.

In seinem Bühnenkrimi „Die Überflüssigen“ am Maxim Gorki Theater Berlin dringt der Dramatiker Philipp Löhle mit reichlich dürrenmattschem Humor in die Kleinstadtruine ein. Das Stück ist Teil des Projektes „Über Leben im Umbruch“, das die Lebensbedingungen der schrumpfenden Stadt Wittenberge an der Prignitz zum Untersuchungsgegenstand macht. Doch Löhle bleibt nicht in der wissenschaftlichen Dokumentation stecken. Er überspitzt vielmehr das Bild der Kleinstadt und macht so erst die Grenzen der Provinz plastisch.

Das fiktive Lukke absorbiert seine Bewohner total und schmiedet sie in einem exklusiven Pakt der Selbstaufgabe und Schicksalsergebenheit zusammen. „Immer besser scheitern“, lautet das gemeinsame Losungswort, und das Los hat man mit der Geburt bereits gezogen: Das Holz für die letzte Behausung wächst vor der Haustür in Form einer Pappelzucht, mit der sich ein Dorfpfarrer den Lebensunterhalt verdient.

Gestört wird dieser Pakt, als Eddie „Spaghetti“, ein ehemaliger Bewohner Lukkes, in seine Heimat zurückkehrt. Eddie, inzwischen Teil einer bonbonfarbenen Shampoo-Werbewelt, wittert seine Chance, aus dem Idyll Geld zu schlagen. Touristen sollen nach Lukke strömen, ihren Bauchnabel auf Liegematten sonnen und „verschwinden auf Zeit“. Doch die Bewohner spielen nicht mit. Das Gesetz erhebt richtend seine Hand.

Die Ausweglosigkeit und Beengtheit Lukkes inszeniert Regisseur Dominic Friedel, indem er die Figuren vor einer Schlucht von grauen Häuserfassaden agieren lässt, die das Szenenbild von allen Seiten einschließt. In dieses Gefängnis und Reservat gleichermaßen fügen sich die Bewohner nur allzu logisch ein. Schließlich haben sie sich mit dem Überflüssigsein nicht nur abgefunden, sondern sie verteidigen es in Selbstjustiz auch vehement gegen alle Übergriffe von außen.

Friedel spielt meisterhaft mit den Mustern des Westerns, arbeitet mit starken Schwarz-Weiß-Kontrasten, wobei die Figuren mal ohne erkennbares Gesicht ins grelle Gegenlicht gestürzt werden, um sich ein andermal im Mann-gegen-Mann-Duell gegenüberzustehen. Selbsterklärter Sheriff dieses Ortes ist Chris, der zunächst statt Pistole und Messer nur seinen Kamm aus der Tasche zückt. Zunächst. Den schwarzen Ganoven markiert ein Geldeintreiber mit Wiener Dialekt, genannt „der Türke“.

Das Stück verpackt Zivilisations- und Kapitalismuskritik in eine wunderbar pointierte Geschichte, die am Ende parabelhafte Züge annimmt. Das Plakative macht den Unterhaltungswert des Stückes aus. Zugleich bleibt dem Zuschauer das Anbandeln mit alten Klischees nicht erspart: Die Lukker heben sich von Eddie dadurch ab, dass sie Gefühle zeigen, die nächste Großstadt mit Neuseeland verwechseln und in Nostalgiephrasen stecken bleiben. Und die Darstellung der Provinzbevölkerung als trinkende, zum Sterben verurteilte Sippschaft hat etwas von einer Neuauflage des naturalistischen Dramas: das Land als Krankheitsherd und Ort der Degeneration.

Doch die Perspektive hat sich um 180 Grad gedreht: Der Organismus stößt Eddie als Fremdkörper ab. Er reinigt sich selbst. Und dadurch wird die Sache spannend: Die amüsante Westerngeschichte bewegt sich zusätzlich auf eine gesellschaftskritische Ebene hin. ISABEL METZGER

■ Das nächste Mal zu sehen am Samstag, dem 5. Juni, um 15.30 Uhr auf der Studio-Bühne im Gorki-Theater